Erkranken Kinder, die in der Nähe eines AKW leben, häufiger an Leukämie? Eine deut- sche Studie belegt dies. Eine Studie in der Schweiz will das nun ebenfalls ergründen – ein schwieriges Unterfangen.


AKW Gösgen

© Greenpeace / Fojtu

Ein Monster geht um, das Kinder jagt, doch keiner bekommt es zu fassen. Konkret geht es um die auffallend vielen Kinder, die in der Nähe von Atomkraftwerken leben und an Leukämie erkranken. Vor gut zwei Jahren löste in Deutschland die Kinderkrebsstudie (KiKK) einen Wirbel aus. Die Studie belegt:

Kinder, die im Umkreis von bis zu fünf Kilometern von einem AKW leben, haben ein doppelt so hohes Risiko, an Leukämie zu erkranken, wie Kinder, die weiter weg leben.

Niemand hat die Resultate je bestritten. Umstritten ist nur: Haben die Leukämieerkrankungen etwas mit den Atomkraftwerken zu tun? Bei so genannten epidemiologischen Studien lässt sich zwar eine Häufung von Erkrankungen feststellen, aber nie ein direkter Zusammenhang zwischen einer Ursache und der Erkrankung herstellen.

In der offiziellen Stellungnahme zur KiKK-Studie heisst es denn auch: «Nach dem heutigen Wissensstand kommt Strahlung, die von Kern- kraftwerken im Normalbetrieb ausgeht, als Ursache für die beobachtete Risikoerhöhung nicht in Betracht.» Dem Bundesamt für Strahlenschutz, das die Studie in Auftrag gegeben hatte, ist es dabei nicht ganz wohl: «Wir sehen uns einfach nicht in der Lage, aufgrund der Daten eine klare Aussage zu machen», sagte Bernd Grosche, Mitarbeiter des Bundesamtes, in Berlin an einer Tagung zur KiKK-Studie und fügte hinzu: «Aber ich bin froh, dass es in Deutschland den Ausstiegsbeschluss gibt. Wir sollten dabei bleiben!»

An dieser Tagung wurde ausführlich über mögliche Ursachen debattiert. Passiert es vielleicht über die Väter, die im AKW arbeiten? Oder lösen niedrige Strahlendosen beim Embryo die Krankheit aus? Denn Atomkraftwerke geben auch im Normalbetrieb Radionuklide ab – zum Beispiel AKW und Kinderleukämie: Zu behaupten, es sei nichts, ist unwissenschaftlich Tritium. Tritium ist mobil und gilt als aggressiv. Möglich wäre es, dass Schwangere, die in der Nähe von AKW leben, kurzfristig erhöhter Strahlung ausgesetzt sind und dies genau in dem Zeitpunkt passiert, in dem der Organismus des ungeborenen Kindes besonders empfindlich reagiert. Erklären, was da genau geschieht, kann zurzeit niemand. Aber viele deutsche StrahlenschutzexpertInnen sind sich einig: Es ist unwissenschaftlich, zu behaupten, die AKW hätten nichts damit zu tun – solange dies nicht belegt ist.

«Unangebrachter» Zusammenhang

Das sehen allerdings nicht alle so: Mitte April lud das Schweizer Forum Medizin und Energie (FME) die Medien ein und präsentierte seine Broschüre «Kinderleukämie und Kernkraftwerke – (K)Ein Grund zur Sorge?». Das Forum – das als atomfreundlich gilt – vertritt darin die Ansicht, die Häufung der Erkrankungen hänge mit «Bevölkerungsdichte, Sozialstatus und Wanderungsbewegungen» zusammen. Die Autoren der Broschüre gehen davon aus, dass Viruserkrankungen die Leukämien verursachten. Deshalb halten sie es auch für «unangebracht», im Zusammenhang mit den AKW-Neubauten über Kinderleukämie zu reden.

Ganz so einfach dürfte es nicht sein: Angeregt durch die KiKK-Studie hat die Schweizer Krebsliga 2008 die Studie «Kinderkrebs im Umfeld von Schweizer Kernkraftwerken» (Canupis) initiiert, denn bis heute fehlen in der Schweiz entsprechende Daten. Das Problem ist nur: Die Chance ist gross, dass gar nichts gefunden werden kann – weil die Schweiz zu klein ist.

Der Basler Onkologe Claudio Knüsli, Präsi- dent der Ärzte für soziale Verantwortung (PSR/IPPNW), kritisiert, dass die «Power», also die «statistische Nachweiskraft» der Studie, zu gering sei, weil es schlicht zu wenig Krankheitsfälle gibt: «Man könnte ebenso gut eine Münze aufwerfen und müsste keine aufwändige Studie machen, die dazu missbraucht werden kann, zu behaupten, es gebe keinen Zusammenhang zwischen Leukämie und Atomkraftwerken. Eine Behauptung, die vor allem im Hinblick auf die geplanten AKW-Neubauten politisch ausgeschlachtet werden könnte.»

Matthias Egger, Leiter des Berner Instituts für Sozial- und Präventivmedizin, das die Canupis-Studie durchführt, meint zu dieser Kritik: «Es ist wahrscheinlich die beste Studie, die jemals zu diesem Thema gemacht wurde.» Er räumt aber auch ein: «Schon möglich, dass unsere Studie zu klein ist – aber wir können keine Studie machen, die mehr Power hat, das geht aufgrund der Rahmenbedingungen einfach nicht.» Die ersten Resultate der Studie werden im nächsten Jahr erwartet. Schon jetzt darf man behaupten: Wenn sie nichts findet, heisst das nicht, dass da nichts ist.

Susan Boos, Redaktorin der WOZ, Die Wochenzeitung

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