Zur Lancierung des neuen Film Big Miracle mit Drew Barrymore, bei dem es um eine Aktion zur Rettung von im Eis eingeschlossenen Grauwalen 1988 in Alaska geht, veröffentlichen wir die spannenden Erinnerungen von Campbell Plowden, der damals die Wal-Kampagne von Greenpeace koordinierte und in der ganzen Geschichte eine wichtige Rolle spielte. Er beschreibt eine der verrücktesten Wochen seiner 14-jährigen Tätigkeit bei Greenpeace und stellt die Walrettung, die der Film Big Miracle erzählt, in den Kontext einer gross angelegten Kampagne zur Beendigung der Waljagd weltweit.

«Big Miracle – der Ruf der Wale»: Ab 16. Februar 2012 überall in den Kinos

Als ich am 14. Oktober 1988 frühmorgens erwachte, hörte ich am Radio, dass in Eislöchern im Meer vor Barrow in Alaska ein paar Grauwale gesichtet worden waren, die durch das sehr rasch zufrierende Eis eingeschlossen worden waren.

Diese Nachricht machte mich traurig, weil mir sehr viel an Walen liegt, aber das Ganze war ein Naturereig­nis und ich hatte damals nicht das Gefühl, wir könnten oder sollten etwas dagegen tun. Ich hatte als Koor­dinator der Wal-Kampagne für Greenpeace USA bereits alle Hände voll zu tun. Wir führten damals einen gross angelegten Kampf gegen die Walfangindustrie in drei Ländern, wobei wir uns insbesondere auf Island konzentrierten, wo gefährdete Finnwale im Rahmen eines sogenannten «Forschungsprogramms» getötet wurden. Seit 18 Monaten riefen wir zum Boykott von isländischen Fischereiprodukten auf und setzen ame­ri­kanische und europäische Unternehmen unter Druck, die solche Produkte kauften. Nur eine Woche zuvor konnten wir den bis dahin grössten Erfolg unserer Kampagne verzeichnen: Die Fischrestaurantkette Long John Silver hatte einen 7 Mio. Dollar schweren Vertrag für den Kauf von Fisch mit einem bedeutenden islän­dischen Fisch-Exporteur gekündigt. Der Premierminister von Island und das Parlament diskutierten öffent­lich darüber, ob ihr Walfangprogramm eingestellt werden sollte.

Als ich das Greenpeace-Büro in Washington, D.C. betrat, begrüsste mich unsere Receptionistin etwas er­schöpft und drückte mir einen Stapel rosarote Nachrichtenzettel in die Hand: «Es haben einige Leute ange­rufen und gefragt, was Greenpeace zur Rettung der im Eis gefangenen Wale in Alaska unternehmen wird». «Einige Leute», sagte sie, was wohl die Untertreibung der Woche war.

Mir wurde sofort klar, dass wir diesen Vorfall nicht einfach als Naturereignis abtun oder als unbedeutenden Zwi­schen­fall ignorieren konnten. Wir hatten eben den Auftrag erhalten, uns darum zu kümmern. Ich muss­te also mein Bestes geben und wollte versuchen, diese Gelegenheit zur Rettung von noch viel mehr Walen rund um Island zu nutzen.

Ich habe den Film Big Miracle zwar noch nicht gesehen, bei dem es um die Rettung von zwei dieser Wale geht, aber soviel ich weiss, konzentriert er sich fast ausschliesslich auf die Ereignisse in Alaska. Er spielt hauptsächlich in der Gegend rund um die Inuit-Siedlung Barrow, in der die Einheimischen vom Walfang leben, und stellt verschiedene Regierungs- und Industrievertreter und die engagierte Greenpeace-Aktivistin Cindy Lowry (die im Film Rachel heisst) in den Fokus. Ich werde nicht näher darauf eingehen, ob und wie in diesem Film Fakten und Fiktion vermischt werden. Vielmehr möchte ich erzählen, wie ich diese hektischen Tage meist hinter den Kulissen erlebt habe. Meine Messie-Tendenzen kommen mir hierbei zugute, denn ich konnte tatsächlich ein Notizbuch aus der damaligen Zeit ausgraben, in dem ich vieles aufgeschrieben habe. Anne Dingwall – meine damalige Vorgesetzte bei Greenpeace – half mir zudem, mich noch an anderes zu erin­nern. Wer noch mehr über die ganze Geschichte erfahren will, dem empfehle ich das Buch «Freeing the whales: How the media created the world’s greatest non-event» von Tom Rose.

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Als die Geschichte in den nationalen Nachrichten kam, waren die Wale offenbar schon eine Woche in den noch wenigen offenen Löchern im Eismeer gefangen gewesen, und Beobachter fürchteten, dass sie nur noch ein wenige Tage überleben würden. Das Ziel bestand also darin, einen 8 Kilometer langen Durch­gang durch das Eis zu schaffen, damit die Wale wieder ins offene Meer gelangen könnten. Meine Kollegen klär­ten mich in einer Schnellbleiche darüber auf, wie die oft schwierigen Beziehungen zwischen Green­peace, einheimischen Walfängern in Alaska, Ölkonzernen, Biologen und Journalisten am besten gehandhabt wer­den, wobei sich der Umgang mit den offiziellen Vertretern der staatlichen und bundesstaatlichen Regierun­gen und des Militärs als nicht minder schwierig erweisen sollte.

Die offensichtlichste Lösung des Problem bestand darin, einen Eisbrecher aufzutreiben und den Weg zu den Walen freizubahnen. Ich fand allerdings schnell heraus, dass uns die US-Regierung dabei nicht helfen konn­te. Sie hatte nur zwei Schiffe, die überhaupt für diese Aufgabe in Frage gekommen wären. Eines davon be­fand sich mehrere Hundert Kilometer entfernt, steuerte gerade von Barrow weg und steckte selbst im Eis fest, und der einzige andere Eisbrecher der Küstenwache wurde gerade im weit entfernten Seattle repa­riert. Die Hoffung auf einen Eisbrecher eines privaten Unternehmens zerschlug sich ebenfalls. Der Öl­konzern Amoco hatte zwar einen, aber dieser befand sich bei einem Bohrschiff in rund 240 Kilometer Ent­fernung.

Vom ersten Tag an sammelte ich zusammen mit Ed Simmons, dem Manager der ersten Rainbow Warrior von Greenpeace, verschiedene Ideen, wie wir das Eis durchbrechen oder die Wale auf eine andere Weise retten könnten. Leute riefen von überall her an und machten Vorschläge. Ich sprach mit allen Anrufern, ohne je zu wissen, ob die nächste Idee vollkommen verrückt oder brillant sein würde. Vorgeschlagen wurde vieles: Sprengstoff, ein Wasserstrahlschneider, wie er zum Schneiden von Beton verwendet wird, ein trag­barer Laser, eine Wasserstrahlpumpe, ein sogenannter PASER zum Schneiden von Glas und Stahl oder auch eine Tunnelbohrmaschine mit einem rotierenden Schneidrad. Andere schlugen vor, die Wale mit Schlingen in die Luft zu hieven oder sie mit Walgesängen in die Freiheit zu locken. Einige Ideen waren verlockend, stellten sich jedoch als nicht realisierbar heraus, weil wir die notwendige Ausrüstung nicht rechtzeitig vor Ort bringen konnten, oder sie waren zu gefährlich für die Wale und/oder sie hätten mehr Energie erfordert, als wir auf dem Eis zur Verfügung gehabt hätten.

Zuletzt blieben nur zwei Vorschläge übrig. So wollte uns das Unternehmen Veeco, das für die Ölindustrie tätig ist, einen Luftkissen-Lastkahn zur Verfügung stellen, der möglicherweise geeignet war, um einen Weg durch die weniger als 30 Zentimeter dicke Eisschicht ganz in der Nähe der Wale zu bahnen. Die Reali­tät war aber, dass wir auch einen über 11 Meter dicken Presseisrücken zwischen den Walen und dem offe­nen Meer durchbrechen mussten. Und wenn kein Eisbrecher von der US-Regierung oder -Industrie zur Ver­fügung stand, dann blieb uns wohl nur die Möglichkeit, die Sowjetunion anfragen, ob sie uns einen zu Hilfe schicken könnte.

Unsere ersten Gespräche mit der US-Regierung über diese letzte Option verliefen nicht gerade ermutigend. Präsident Reagan war bekannterweise kein grosser Freund der Sowjetunion und die Idee, diesen kommu­nis­ti­schen Riesen darum zu bitten, eines oder mehrere seiner Schiffe in amerikanische Gewässer zu entsen­den, um Wale zu retten, schien absurd. Zudem tötete die UdSSR jedes Jahr bis zu 169 Grauwale – angeblich um die Einwohner auf ihrer Seite des Beaufort-Meeres mit traditioneller Nahrung zu versorgen, wobei Greenpeace nur vier Jahre zuvor bewiesen hatte, dass das Walfleisch in Tat und Wahrheit als Futter in einer Nerzfarm nahe der Walstation verwendet wurde. Wenn die US-Regierung keine Lösung für die Rettung die­ser Wale finden würde, dann könnten die Bewohner Alaskas sie doch vielleicht einfach zusätzlich zu den Grönlandwalen fangen, die sie ja ebenfalls jagten.

Eine Frau rief an und sagte, sie kenne den Industriellen Armand Hammer, der offenbar gute Verbindungen zu den Russen habe. Später meldete sie sich allerdings sehr frustriert nochmals und sagte, Hammers Sekre­tä­rin habe sie ziemlich rüde abgekanzelt.

Greenpeace verfügte jedoch auch über eigene Kanäle ins «Böse Reiche». Der ehemalige Vorsitzende von Greenpeace International, David McTaggart, pflegte verschiedene Kontakte zu Offiziellen in der UdSSR, weil er auf diese Weise den Weg für die Eröffnung eines Greenpeace-Büros in der UdSSR ebnen wollte. Ich schickte David deshalb eine Nachricht und fragte ihn, ob er jemanden kenne, den wir kontaktieren könnten und der uns helfen könnte, die Sowjetunion dazu zu bringen, einen Eisbrecher zur Befreiung der Wale nach Alaska zu entsenden. McTaggart war gerade krank, aber einige Tage später nannte mir sein Assistent Brian Fitzgerald einen Namen: Arthur Chilingarov. Er war Mitglied des staatlichen Komitees für Hydrometeo­rolo­gie und Umweltkontrolle der UdSSR und Leiter mehrerer arktischer und antarktischer Expeditionen der UdSSR. Offenbar war er die richtige Ansprechperson. Greenpeace hatte vor der Zeit von Internet und E-Mail bereits ein eigenes System (Greenlink), um elektronische Nachrichten über Computer-Netzwerke zu verschicken und zu empfangen, während der Rest der Welt noch meist via Telex über lange Distanzen mit­einander kommunizierte. Dabei wurde normalerweise eine Nachricht in eine Maschine getippt, die diese dann in ein Lochmuster auf einem langen Papierstreifen übersetzte. Dieser Streifen wurde dann in eine Maschine eingefädelt, welche die Nachricht über das Telefonnetz an die Telex-Maschine des Empfängers sandte. Nach mehreren Anrufen an die sowjetische Botschaft gelang es mir schliesslich, die Telex-Nummer von Chilingarov ausfindig zu machen. Anne Dingwall und ich setzten eine Nachricht auf und schickten sie an ihn, ohne zu wissen, ob wir je eine Antwort erhalten würden.

Am 3. und 4. Tag tat sich einiges. Cindy Lowry reiste von Anchorage nach Barrow, um der Rettungsaktion so nah wie möglich zu sein. Die Reise zu den Eislöchern war jedoch alles andere als einfach, weil diese rund 15 Kilometer oder 45 Minuten Fahrt mit dem Schneemobil von Barrow entfernt waren. Die Berichte über den Gesundheitszustand der Wale, die wir von ihr und anderen erhielten, klangen nicht gut. Cindy vermutete, dass ihr Sehvermögen eingeschränkt sei: Immer wieder stiessen sie zudem mit dem Kopf am Eis an. Der kleinste Wal hatte bereits schlimme Schnittwunden. Wahrscheinlich fanden sie auch keine Nahrung, weil das Wasser zu seicht war. Ihre Atmung zeigte klar, wie gestresst sie waren, und eines der grösseren Tiere schien zudem eine Lungenentzündung zu haben. Fachleute fanden es aber nicht klug, ihnen Medikamente zu geben, weil sie befürchteten, dies würde sie nur noch mehr stressen.

Poster Alaska

Der Lastkahn von Veeco war offenbar unterwegs, ebenso wie der Spezialist für Tierkommunikation Jim Nollman, der hoffte, die Wale mit Tönen in Richtung Freiheit locken zu können. Das Laboratorium für Mee­res­säugetiere in Seattle versprach, Tonaufnahmen von Grauwalen zu schicken. Die Inuit, für die schon bald die Jagd nach Grönlandwalen beginnen sollte, setzten sich ebenfalls für die Rettung der eingeschlossenen Grauwale ein. Sie hatten ihnen die Inupiat-Namen Siku (Eis), Putu (Eisloch) und Knik (Schneeflocke) gege­ben. Arnold Brower, der Leiter der Alaska Eskimo Whaling Commission, und andere Inuit befanden sich vor Ort und schlugen neue Löcher in die Eisfläche, damit die Wale Luft holen konnten.

Ich hatte schon viele hektische Tage bei Greenpeace erlebt, aber diese Woche war definitiv eine der ver­rücktesten. Mein Ohr tat mir weh vom ununterbrochenen Telefonieren. Ich hielt nicht nur ständig Kontakt zu Cindy und anderen Personen, die an der Walrettung und am Fischboykott beteiligt waren, sondern war auch in den Medien so präsent wie nie. Ich nahm als Gast an zwei nationalen Morgen-Talkshows teil und sprach mit Dutzenden von Reportern der grossen Nachrichtenagenturen, Zeitungen, Fernseh- und Radio­stationen. Am 5. Tag der Rettung stand ich um 4 Uhr morgens auf, um für Good Morning Ulster in Nord­irland ein Interview zu geben. Das war zweifellos ein Highlight, aber es war auch frustrierend, weil die meisten Reporter nur über das Drama sprechen wollte, das sich in Alaska abspielte. Wann immer möglich versuchte ich darauf hinzuweisen, dass sich die Welt auch für die Rettung der unzähligen Wale stark ma­chen sollte, die von den Harpunen der Walfänger in Island, Japan und Norwegen bedroht waren.

Die Nachricht, dass Long John Silver einen 7-Millionen-$-Vertrag mit einem grossen isländischen Fisch­exporteur aufgelöst hatte, brachte in Island aber doch einiges in Gang. Das Fischereiunternehmen Samband verkaufte seine Anteile am Walfang-Unternehmen und der isländische Premierminister spekulierte öffent­lich darüber, dass sein Land die Walforschung für ein Jahr aussetzen könnte. Die Vertragsauflösung gab auch unserem Boykott in Deutschland Auftrieb, wo wichtige Fischabnehmer nun ebenfalls in Erwägung zogen, ihre Verträge aufzulösen. Das isländische Kabinett und das Parlament waren aufgeschreckt und planten eine Debatte darüber, was angesichts der Angriffe der «Öko-Terroristen» auf ihre Fischindustrie mit dem Walforschungsprogramm zu tun sei.

Bis Tag 6 hatte der Lastkahn von Veeco grosse Probleme, so dass Alternativen gefragt waren. Ich erhielt viele Anrufe von Personen, die wohl erst vor Kurzem Action-Filme mit schlagkräftigen Spezialeinheiten ge­sehen hatten. Ihre Vorschläge umfassten den Einsatz von Phosphor-Ladungen und Thermit-Bomben. Ein Anruf kam jedoch von einem echten Experten: einem Offizier eines Bombenentschärfungsteams in Adak in Alaska. Er sagte, er verfüge über die notwendige Erfahrung und Ausrüstung und wolle helfen. Sein Team könne Profilladungen in einem Kreis anbringen und so eine Reihe grösser Löcher ins Eis sprengen. Sie müssten allerdings noch das Naval Weapons Center und das spezielle Handbuch konsultieren und die Sicherheitsabstände für solche Sprengladungen abklären. Zudem könne das Team nicht selbst aktiv wer­den, weshalb er uns bat, den Chef der Marineoperationen zu kontaktieren und ihn zu bitten, sein Team nach Barrow zu entsenden.

Am nächsten Tag blies der Wind Schnee in die Löcher, die die Wale zum Atmen brauchten. Unbeeindruckt durch bürokratische Schranken waren ein paar Leute auf eigene Kosten mit einer Generator-betriebenen Enteisungsmaschine von Minnesota nach Barrow geflogen. Eigentlich war es eine Art tragbarer Jacuzzi, dessen Luftblasen die Eisschicht auf dem Wasser auflösen sollten, die die Wale beim Atmen behinderte.

Schliesslich wurde klar, dass der Lastkahn nicht rechtzeitig eintreffen würde, und so versuchte das US-Militär sein Bestes, um der Aktion zum Erfolg zu verhelfen. Es schickte einen riesigen Chinook-Helikopter, der einen massiven Betonblock auf das Eis warf, an einem Stahlseil wieder hinaufzog und dann wieder hinunterwarf. Diese Technik funktionierte zwar gut, um das Eis zu brechen, aber sie hatte einen entschei­denden Haken. Das Eis wurde zwar in Stücke geschlagen, aber die entstandenen Löcher waren nicht klar genug, damit die Wale hier auch tatsächlich Luft holen konnten, und ein Jacuzzi aus Minnesota nützte da leider auch nicht viel.

Als dem isländischen Finanzminister in Reykjavik klar wurde, dass ein einjähriger Stopp des Walfangpro­gramms den Fischboykott nicht aus der Welt schaffen konnte, wurde vorgeschlagen, den Walfang für vier Jahre einzustellen. Der Fischerei-Minister von Island setzte sich hingegen vehement für eine Weiterführung des Walfangs ein und drohte mit seinem Rücktritt, sollten Schritten zur Einschränkung des Walfangs unternommen werden. Das isländische Aussenministerium erklärte gegenüber US-Aussenminister George Schultz, dass seine Regierung den Walfang nicht stoppen würde und dass der Premierminister ohne vor­herige Rücksprache mit seinem Kabinett nicht über einen solchen Schritt hätte spekulieren dürfen. Darauf krebste der Premierminister zurück und erklärte, seine früheren Äusserungen seien missverstanden wor­den. Unsere einzige Hoffnung blieb damit ein Kongressabgeordneter, der im isländischen Parlament eine Resolution einbringen und die Regierung zum Stopp des Walfangprogramms auffordern wollte. Der betref­fende Abgeordnete rief Greenpeace privat dringend dazu auf, den Druck aufrecht zu erhalten, damit seine Chancen stiegen. So verbrachte ich also einen Vormittag damit, die isländische Botschaft auszukundschaf­ten und alle isländischen Konsulate in den USA ausfindig zu machen. Die Medienberichte über die bedroh­ten Wale in Alaska müssten den Protesten gegen die Tötung von Hunderten Walen für die «Forschung» in Island doch sicher Auftrieb geben!

Am nächsten Tag zeigten einige lokale Medien Interesse an unseren geplanten Protesten gegen den islän­dischen Walfang in Washington, D.C. Eine weitere Strategie in unserem Kampf gegen den Walfang in Island bestand darin, eine Klage gegen die US-Regierung einzureichen, weil sie ihre eigenen Gesetze nicht durch­setzte. Gemäss dem sogenannten «Pelly Amendment» kann die USA eine Importsperre gegen Fischerei­produkte aus Ländern verhängen, die gemäss dem US-Handelsministerium die Wirksamkeit von internatio­na­len Fischereischutzabkommen untergraben. Es schien klar zu sein, dass Island mit dem Walfang genau dies tat, denn der wissenschaftliche Ausschuss der Internationalen Walfangkommission (IWC) hatte erklärt, das Walforschungsprogramm von Island lasse sich wissenschaftlich nicht begründen. Die IWC hatte deshalb mit Unterstützung der USA eine Resolution verabschiedet, die Island zu einer Einstellung dieses unrühm­lichen «Forschungsprogramms» aufforderte. Ich nahm an diesem Nachmittag an einem Treffen der renom­mierten Anwaltskanzlei Arnold and Porter in Washington teil, um die Fortschritte in dieser Angelegenheit zu diskutieren.

Nachdem das Drama in Alaska bereits eine Woche gedauert hatte und die Situation wirklich schlecht aus­sah, erhielten wir schliesslich die ersehnte positive Nachricht von Arthur Chilingarov. Die Sowjets hatten zwei Eisbrecher, die möglicherweise zur Rettung der Wale entsendet werden könnten. Die Admiral Makarov könnte in zwei Tagen da sein. Chilingarov bat uns jedoch um unsere Hilfe, um die notwendigen Genehmigungen der US-Regierung zu erhalten. Schon schwirrten in den Medien in Alaska Gerüchte umher, die Sowjets würden einen Eisbrecher schicken, aber wir wollten dies nicht bestätigen, weil wir die Sache nicht gefährden wollten und befürchteten, die Wale wären längst tot, bevor die Schiffe eintreffen würden. Die USA wollten die Sowjetunion offenbar nicht offen um Hilfe bitten, und die Sowjetunion konnte ihre Hilfe nicht anbieten und dabei riskieren, von den USA abgelehnt zu werden und so ihr Gesicht zu verlieren.

Der National Marine Fisheries Service (NMFS) hatte Erfahrung mit dem Einholen von Genehmigungen für sowjetische Fischerboote in US-Gewässer, aber das war etwas anderes. Der NMFS hatte zwar unterdessen die Genehmigung des Verteidigungsministeriums erhalten, die Sowjets zu fragen, ob ein Schiff verfügbar wäre. Weil der Fall jedoch so sehr im Fokus der Öffentlichkeit stand, war der letztliche Entscheid an das Aussenministerium delegiert worden. Erst waren wir ermutigt, als wir hörten, dass Vize-Aussenminister John Negroponte (der später ein bekannter Diplomat der Regierung Bush wurde) unser Anliegen befür­wortete. Es war dann aber meine Aufgabe, unser Ansinnen auch einem seiner Mitarbeiter, Tucker Skully, schmackhaft zu machen.

Ich rief Skully von Anne Dingwalls Büro aus an, die das Gespräch mithörte. Ich erklärte ihm, was wir unter­nommen hatten, um erst einen amerikanischen Eisbrecher zu finden, berichtete über unsere nachfolgen­den Kontakte mit den Sowjets und erzählte ihm schliesslich, dass Chilingarov uns um Unterstützung ge­beten habe. Skully erklärte, dass das Aussenministerium sehr wohl über die Option eines sowjetischen Eis­brechers informiert sei und dass man die Angelegenheit prüfe. Da sich die Wale in einer äusserst prekären Lage befanden, fragte ich ihn, wann wir mit einem Entscheid rechnen könnten. Skully reagierte ziemlich ungehalten auf meine Frage, die er als Andeutung dafür auffasste, sein Departement brauche unsere Hilfe bei der Entscheidungsfindung und das Aussenministerium zögere aus politischen und nicht praktischen Gründen, grünes Licht für den sowjetischen Eisbrecher zu geben (was faktisch wahr war). Er beendete das Gespräch wütend und legte auf.

Schnell erzählte ich Anne, was Skully gesagt hatte. Es war bereits 4 Uhr nachmittags an einem Freitag und es schien unwahrscheinlich, dass das Aussenministerium noch vor dem Wochenende einen Entscheid be­kannt­geben würde. Dabei ging es den Walen zusehends schlechter. Knik («Schneeflocke»), der kleinste von ihnen, kam nicht mehr an die Oberfläche und war wahrscheinlich unter dem Eis ertrunken. Es war Zeit, ein kalkuliertes Risiko einzugehen und die US-Regierung so dazu zu bringen, in der Mission zur Rettung der bei­den noch lebenden Wale ebenfalls eine kleine Heldenrolle zu übernehmen. Ich griff zum Telefon und rief die Nachrichtenagentur Associated Press an: «Hier spricht Campbell Plowden, der Koordinator der Walkam­pagne von Greenpeace. Ich möchte Ihnen mitteilen, dass die Sowjetunion zwei Eisbrecher schicken wird, um mitzuhelfen, einen Weg zu den in Alaska eingeschlossenen Wale zu bahnen.» Schon bald liefen die Dräh­te heiss und überall hiess es: «Die Russen kommen – um die Wale zu retten!»

Am Montagmorgen meldete ein NMFS-Sprecher vom Handelsministerium, dass ein Naturschutzabkommen von 1976 zwischen der USA und der UdSSR als diplomatisches Mittel herangezogen werde, um der Admiral Makarov und der Vladmir Arsenev die Erlaubnis zu erteilen, in die Hoheitsgewässer der USA vorzustossen.

Letztlich war die Rettung ein gemeinsamer Effort der Inuit, der Regierungen der USA und der UdSSR, von Greenpeace und der Medien, die für die nötige Publicity sorgten. Als wirksamste Massnahme des US-Militärs entpuppte sich schliesslich, dass die Armee ein C-130-Transportflugzeug voller Motorsägen einflog. Wo ausgeklügelte Pläne und Maschinen versagten, setzten die Inuit Motorsägen ein, um auf einer Länge von 1,5 Kilometern in Abständen von 35 Metern Löcher ins Eis zu schneiden. Jedes Mal, wenn die zwei mittelgrossen Wale zu einem Loch näher am offenen Meer schwammen, deckten sie die näher am Land liegenden Löcher mit Plastik zu, damit sie nicht zurückkehrten. Viel weiter hinaus konnten die Inuit nicht gehen, weil das Eis zu dick wurde. Sie hatten aber eine Gegend erreicht, in der das Wasser tief genug war für die sowjetischen Eisbrecher, die den Presseisrücken unterdessen durchstossen und einen temporären, rund 5 Kilometer langen Weg ins offene Meer gebahnt hatten. Als ich hörte, dass die Wale dies endlich gemerkt hatten und in die Freiheit geschwommen waren, fühlte ich eher Erleichterung als Triumph.

Operation Breakthrough

Der Grossteil meiner Arbeit drehte sich um die Rettung von Walen, die weder ich noch irgend jemand sonst je zu Gesicht bekommen wird, aber ich betete im Stillen für diese beiden Überlebenden. Es wäre zu grau­sam sich vorzustellen, dass zwei sowjetische Schiffe eine entscheidende Rolle in der Befreiung von Siku und Putu gespielt hatten, nur um ein Jahr später wie andere Grauwale auch von einem anderen sowjetischen Schiff im Beaufort-Meer abgeschossen zu werden und als Futter für die Nerze zu enden. Ich freute mich, als Erinnerung an die gemeinsame Rettungsaktion von einem Freund im NMFS einen Aufnäher mit dem Bild von Grauwalen zu erhalten, auf dem die Worte «Operation Breakthrough» in Englisch und Russisch aufge­stickt waren.

Wir führten unseren geplanten Protest gegen den Walfang vor der isländischen Botschaft in Washington, D.C. durch, aber es nahmen nicht sehr viele Menschen daran teil und die Medien berichteten kaum darüber. Der Boykott ging aber weiter. Mehrere Fast-Food-Ketten schlossen sich Long John Silver an und suspendierten ihre Verträge für den Kauf von isländischem Fisch, bis Island den Walfang einstellen würde. Ein Greenpeace-Aktivist in Boston sprach mit über 50 Schulbezirken in New England und versuchte, sie zu einem ähnlichen Protest zu bewegen. Burger King konnten wir nicht überzeugen, aber immerhin gab das Unternehmen seinem Fisch-Sandwich, das bis dahin The Whaler hiess, einen neuen Namen. Die Boykott-Aktionen gegen den Kauf von isländischem Fisch in den USA, Deutschland und Grossbritannien kosteten Island insgesamt mehr als 50 Mio. Dollar. Die isländische Regierung stoppte das Walforschungsprogramm zwar nicht sofort, aber nach Ablauf des dreijährigen Programms wurde es nicht mehr erneuert.

Die Reagan-Regierung unternahm keine konkreten Schritte gegen den isländischen Walfang: Unterlagen, die im Rahmen der Beweiserhebung für das Gerichtsverfahren enthüllt wurden, zeigten, dass die USA kein Land gegen sich auf­bringen wollte, als das wichtiger NATO-Verbündeter galt. Das uneinsichtige Island trat 1992 aus der Inter­nationalen Walfangkommission IWC aus und wollte den Walfang fortsetzen, ohne sich von der IWC ein­schrän­ken zu lassen. Da dies jedoch nicht gelang, trat das Land 2006 wieder in die Kom­mission ein. Island betreibt aber weiterhin ganz offen einen kommerziellen Walfang, um das Fleisch nach Japan zu verkaufen – bislang allerdings ohne Erfolg. Der amerikanische Handelsminister warf Island 2010 vor, mit der Tötung von mehreren Hundert Walen gegen das Moratorium für den kommerziellen Walfang von 1982 zu verstossen und die Wirksamkeit der IWC zu schwächen, und verwies dabei auf das Pelly Amendment, das Sanktionen für solche Fälle vorsieht. Dieses Schreiben zeigt, dass die US-Regierung Island zwar zum Stopp des Walfangs bewegen wollte. Gefordert wurden jedoch nur verschiedene diplomatische Massnahmen statt harte Sanktionen wie etwa ein Importverbot für isländischen Fisch. Japan und Norwegen betreiben ebenfalls nach wie vor aktiven Walfang, wenn auch deutlich weniger als früher.

Ich setzte mich während rund 14 Jahren bei Greenpeace und der amerikanischen Tierschutzorganisation Humane Society für ein Verbot des kommerziellen Walfangs ein. Jetzt widme ich mich vor allem dem Schutz des Regenwaldes und unterstütze nachhaltige ursprüngliche Lebensformen im Amazonas. Dazu habe ich eine eigene Organisation, das Center for Amazon Community Ecology, gegründet. Ich hoffe, dass der Film Big Miracle die heutige Generation dazu bewegen kann, ihre Differenzen zu überwinden und sich gemein­sam für eine dauerhafte Rettung der Wale und für wirksame Strategien zum Schutz der Meere und aller Naturräume unserer Erde einzusetzen.

Campbell Plowden war als Koordinator der Walkampagne für Greenpeace USA und Greenpeace International tätig. Gegenwärtig ist er geschäftsführender Direktor des Center for Amazon Community Ecology.