Sie sind gekommen, um zu berichten. Ein knappes Jahr nachdem die dreifache Katastrophe von Erdbeben, Tsunami und Atomunfall ihre Heimat Fukushima erschütterte, sitzen Yuko Nishiyama und Satoshi Nemoto am sechseckigen Tisch im Zürcher Greenpeace-Büro, noch etwas mitgenommen vom langen Flug. In den nächsten Tagen erwartet sie ein dichtes Programm von Informationsveranstaltungen und Gesprächen mit ExpertInnen, SchülerInnen und PolitikerInnen im Raum Bern.


Yuko Nishiyama und Satoshi Nemoto bei Greenpeace in Zürich

© Greenpeace / Fojtu

 

Von Thomas Niederberger

 Für Yuko Nishiyama, Mutter einer dreijährigen Tochter, hat der 11. März 2011 das Leben komplett auf den Kopf gestellt und ihre Familie zerrissen. In den ersten Tagen nach dem Erdbeben habe sie  versucht, zu tun als ob nichts geschehen sei und ging mit der Tochter im Park spazieren. «Mariko war traumatisiert von den Erschütterungen, darum habe ich den Fernseher ausgeschaltet, damit die schlechten Nachrichten sie nicht noch mehr ängstigen». Über die Gefahr durch den Unfall im Atomkraftwerk erfuhr sie zwei Tage später von einer Freundin per Email, worauf sie beschloss, die Gegend zu verlassen. Der erste radioaktiv verseuchte Regen war zu dem Zeitpunkt bereits nieder gegangen. Ihr Ehemann und ihre Eltern folgten hingegen den offiziellen Beschwichtigungen und liessen sich erst später dazu überreden, die Gegend zu verlassen. Der Ehemann arbeitet jetzt in Tokio, die Eltern leben mit Yuko in Kyoto in einer Wohnung, die den Flüchtlingen gratis zur Verfügung gestellt wird. Wie es weiter gehen soll, weiss Nishiyama nicht – nur eines ist klar: «Ich will meine Tochter auf keinen Fall gefährden». Deshalb hat sie sich in Kyoto mit anderen Betroffenen zusammengeschlossen und eine Selbsthilfeorganisation gegründet.


Yuko Nishiyama

© Greenpeace / Fojtu

 

Auch Satoshi Nemoto hat seine Portion Radioaktivität abbekommen: «Ich bin ein Verstrahlter», bemerkt er mit bitterem Lächeln. Er sei sich zwar über die Gefahr der Radioaktivität im Klaren gewesen, trotzdem habe er zusammen mit anderen Bauern Lebensmittel ins betroffene Gebiet gebracht und sich um Alte und Kranke gekümmert, die noch nicht evakuiert worden waren. Nemoto ist Präsident des Bauernverbandes «Nomiren» für den Distrikt Fukushima – und inzwischen auch Experte für Strahlungsmessung. Mit Hilfe einer Universität hat er sich ein gutes Messgerät besorgt. Er nennt Mikroisievert-Werte und zeigt mit der Hand verschiedene Messhöhen über dem Boden. Die Bauern seiner Region haben eine eigene Strahlungskarte mit einem 100-Meter Raster angefertigt, die viel detaillierter ist als die offiziellen Messungen. Gelernt hat Nemoto seit dem 11. März vor allem eines: «Es gibt kein zurück zur Normalität vor dem Unfall. Wir können uns nicht passiv auf die Anordnungen der Behörden verlassen, sondern müssen unser Leben aktiv in die eigenen Hände nehmen». Dies sei mit ein Grund gewesen, die Einladung von Greenpeace anzunehmen und in der Schweiz von seinen Erfahrungen zu berichten.

Leben nach der Katastrophe

Wie geht man um mit einer Gefahr, die man nicht sehen, hören oder riechen kann? «Es gibt zwar die Strahlungswerte des Dosimeters, eine physische Grösse, aber sie wird von den Menschen sehr unterschiedlich interpretiert», fasst Nemoto zusammen. «Für mich als Betroffener ist es schmerzhaft zu sehen, wie das Pendel zurück schlägt – viele Leute verharmlosen und verdrängen das Problem».


Satoshi Nemoto

© Greenpeace / Fojtu

 

Das Vermessen der unsichtbaren Gefahr ist für ihn ein Mittel gegen das Vergessen. «Es muss flächendeckend und engmaschig gemessen werden», erklärt Nemoto. Denn die Strahlungsbelastung hält sich nicht an den 20-Kilometer-Radius der evakuierten Sperrzone. Auch auf Nemotos drei Hektar grossem Reisfeld in Nihonmatsu City, 60 Kilometer vom Unfallreaktor, würden die kritischen Werte überschritten. Das Gemüse hingegen sei wieder im grünen Bereich. «Die Behörden möchten es sich einfach machen und den Anbau ganz verbieten», erzählt er, «doch damit sind wir nicht einverstanden». Besser sei es, weiter zu produzieren und genaue Messungen durchzuführen, um zu verstehen, wie sich die Kontamination entwickelt.

Für ihre Gewinnausfälle können die Bauern bei der AKW-Betreiberin TEPCO Entschädigungen einfordern. Der dafür nötige bürokratische Aufwand schrecke aber viele Kleinbetriebe und ältere Bauern ab. Nur ein Zehntel der gegen 100’000 Betriebe in der für ihre Landwirtschaft berühmten Region Fukushima habe bisher eine Entschädigung beantragt. Aber immerhin sind die Bauern bereits als Verband organisiert und können so ihre Anliegen vertreten.

Auch die aus Fukushima geflohenen Menschen haben begonnen, sich zu organisieren. Die Präfektur Kyoto stellt rund 400 betroffenen Familien, darunter auch jener von Yuko Nishiyama, provisorisch eine kostenlose Unterkunft zur Verfügung. Meist sind es Mütter mit Kindern, viele Männer blieben wegen ihrer Arbeit in der Region Fukushima zurück. «Die Familien sind zerrissen, wie unsere: Meine Eltern und mein Mann möchten zurück, aber ich fürchte um die Gesundheit meiner Tochter», sagt Nishiyama Auch in Osaka, Kobe und anderen Orten Westjapans wurden zahlreiche Familien untergebracht, die als sogenannt «freiwillig Evakuierte» gelten, weil sie nicht direkt in der 20-Kilometer Zone wohnten, die von den Behörden zwangsweise evakuiert wurde. Die Situation sei eine grosse finanzielle Belastung, weil viele neben den allgemeinen Lebenskosten weiterhin Hypotheken für ihr Haus in Fukushima bezahlen müssten, führt Nishiyama aus. Die kostenlose Unterkunft müssten sie in einem Jahr verlassen. «Die Behörden beschwichtigen und drängen zur Rückkehr dabei gibt es noch immer viele Hotspots mit erhöhter Strahlung. Viele betroffene Kinder zeigen diffuse Krankheitssymptome wie plötzliches Nasenbluten und Hautausschläge», erzählt Nishiyama besorgt. Um die Situation besser einschätzen zu können, will sie sich in der Schweiz bei Fachleuten informieren. Um sich mit anderen Betroffenen auszutauschen und ihre Anliegen gegenüber den Behörden besser vertreten zu können, engagiert sich Nishiyama als Freiwillige beim Kyoto-Netzwerk „Helping Hands“. Nebenbei unterrichtet sie den Flüchtlingskindern Englisch, wie sie es früher beruflich gemacht hatte.

Eine Zukunft ohne Atom statt eine Region ohne Zukunft

«In Fukushima gibt es kein Morgen und kein Übermorgen, nur ein In-30-Jahren!», Nemotos bitteres Lächeln huscht wieder über sein Gesicht, als er dieses neue japanische Sprichwort zitiert. 30 Jahre beträgt die Halbwertszeit des radioaktiven Cäsiums. Doch statt zu hadern schaut Nemoto lieber vorwärts: «Ich mag nicht mehr um Entschädigungen betteln und Lebensmittel produzieren, die niemand essen will». Er wisse, dass die Bauern in manchen Regionen Deutschlands einen grossen Teil ihres Einkommens mit der Produktion von erneuerbarer Energie erzielten. Dies sei auch in Japan möglich und nötig. «Ich weiss nicht, welche Folgen die Strahlung für mich persönlich in Zukunft haben wird, aber ich habe gelernt, dass es keine Zukunft mit Atomkraft geben kann».

Dass die Schweiz den Ausstieg beschlossen hat, bestärke ihn in dieser Überzeugung. Nishiyama stimmt ihm zu. Das Thema sei politisch und ideologisch zwar stark aufgeladen und es sei ihr daher auch nicht nur leicht gefallen, in die Schweiz zu kommen, aber: «Als betroffene Mutter fühle ich mich verpflichtet, meine Stimme für den Atomausstieg zu erheben – weltweit!»