Eine Welt, in der die Menschen sich dank einem neuen globalen Bewusstsein besser verstehen («Die empathische Zivilisation»), und eine Welt, in der nachhaltig und dezentral erzeugte Energie die Wirtschaft in einen sanften Ökokapitalismus verwandeln («Die dritte industrielle Revolution») – so könnte man die beiden letzten Bücher des amerikanischen Intellektuellen, Politologen und Ökonomen Jeremy Rifkin zusammenfassen.

Von Von Philipp Löpfe


Vordenker Jeremy Rifkin:
«Die dritte industrielle Revolution, von der ich spreche, ist eine absolute Notwendigkeit geworden.»
© European Parliament / Pietro Naj-Oleari

 

Kein Wunder, wird er von Zynikern als seniler Schwärmer abgeschrieben. Doch wer bei Rifkin Anzeichen von Altersdemenz zu entdecken glaubt, irrt. Der nicht mehr ganz junge Vordenker – Rifkin ist 68 Jahre alt – macht in seinen jüngsten Werken mit Recht auf einen Zusammenhang aufmerksam, der die Gesellschaft des 21. Jahrhunderts entscheidend prägen, ja möglicherweise gar zu einer Schicksalsfrage der Menschheit werden wird: die Verbindung von nachhaltiger Energie, moderner Informationstechnologie und Gesellschaftsform.

Wer ist Jeremy Rifkin? In vieler Hinsicht ein klassischer Vertreter der 68er-Generation. Als er an der University of Pennsylvania Ökonomie studierte, politisierte ihn der Protest gegen den Vietnamkrieg. In der Folge wurde er ein führendes Mitglied der damaligen Friedensbewegung. Auch bei Demonstrationen gegen Öl- und andere Multis war er an vorderster Front dabei. Bald machte sich einen Ruf als kritischer Vordenker. Bis heute hat er insgesamt 19 Bücher zu Fragen der Gesellschaft, der Arbeitswelt, der Ökologie und vor allem der Energie verfasst. Das hat ihn zu einem gefragten Mann gemacht: Multinationale Unternehmen, nationale Regierungen und die EU-Kommission suchen seinen Rat. Dies wiederum hat ihm Feinde verschafft, denn Rifkin scheut sich nicht, mit dem breiten Pinsel zu malen und die grossen Zusammenhänge aufzugreifen. Das Time Magazine bezeichnete ihn einst als den «am meisten gehassten Mann in der Wissenschaft». Rifkin tanzt zwar auf vielen Hochzeiten, aber er ist kein Heuchler und lebt, was er predigt.

Er ist ein überzeugter Vegetarier, «beinahe Veganer», wie er präzisiert, und hat mit seiner Frau in Virginia eine Farm für misshandelte Tiere eingerichtet. «Säugetiere sind wie die Menschen Teil einer grossen Familie», sagt er. «Alle Lebewesen sitzen im gleichen Boot.»

Rifkin ist überzeugt, dass sich die Menschheit an einem Punkt befindet, der über Sein oder Nichtsein entscheiden wird. «Wir sind in einer Endspielsituation», sagt er: «Die Globalisierung stösst an ihre Grenzen.» Die Klimaerwärmung wird die Menschen zwingen, ihre Wirtschaft grundlegend zu verändern, und zwar schon bald.

«Die dritte industrielle Revolution, von der ich spreche, ist eine absolute Notwendigkeit geworden», sagt Rifkin und fügt hinzu: «Es gibt keine Alternative. Es gibt keinen Plan B.»


Grafik: Coverbild aus «The Third Industrial Revolution» von Jeremy Rifkin

Der zentrale Punkt der dritten industriellen Revolution ist die Verschmelzung von Internet und erneuerbarer Energie. «Im 21. Jahrhundert werden Hunderte Millionen Menschen ihre eigene grüne Energie erzeugen – in ihren Häusern, in Büros, in Fabriken – und sie mit anderen über intelligente dezentrale Stromnetze, über ‹Internetze› teilen, so wie die Menschen heute ihre eigenen Informationen erstellen und via Internet mit anderen teilen», schreibt Rifkin. Die Fusion von Internet und erneuerbarer Energie wird zu einem Paradigmenwechsel in Wirtschaft und Gesellschaft führen. Rifkin vergleicht es mit den grossen Veränderungen, welche die erste und die zweite industrielle Revolution bewirkten. Im 19. Jahrhundert führte die Verbindung von Dampfmaschine und Druckerei dazu, dass Volksschulen entstanden und die Massen in den Genuss von Bildung kamen. Die Konvergenz von Elektrizität und Telefonie bewirkte die Kommunikationsgesellschaft des 20. Jahrhunderts.

Noch tiefer greifende Veränderungen wird die Verbindung von Internet und nachhaltiger Energie bewirken. «Das Internet ist nebst einem sehr mächtigen Kommunikationsinstrument auch eine neue Organisationsform», sagt Rifkin. Die hierarchische Einwegkommunikation wird abgelöst von einer horizontalen Jeder-mit-jedem-Kommunikation. Die nachhaltige Energie verstärkt diese Tendenz, denn anders als die fossile Energie ist sie nicht auf wenige Orte der Welt konzentriert, die mit hohem militärischem und finanziellem Aufwand geschützt und ausgebeutet werden. «Die Situation im Energiebereich lässt sich vergleichen mit der Situation der Computer in den 1970er Jahren», sagt Rifkin. «Damals dominierten die Mainframecomputer von IBM, die zur herrschenden Hierarchie passten. Heute haben wir grosse Energieunternehmen, die Strom mehrheitlich zentral erzeugen und dann verteilen – die IBM-Situation. Doch bald wird es Millionen von Gebäuden geben, die selbst Energie produzieren. Anders gesagt: Die Entwicklung in der IT-Branche – vom Mainframe zum Personal Computer, zum Laptop und zum Smartphone – wird sich im Energiesektor wiederholen.»

Die Heirat von Internet und nachhaltiger Energie wird auch die zwischenmenschlichen Beziehungen verändern. Dank sozialer Medien wie Facebook oder Twitter und Open-Source-Modellen wie Wikipedia und Linux entsteht eine «empathische Zivilisation». Ein uralter Traum der Menschheit, eine Wirtschaft, die von Altru nicht von Egoismus dominiert wird, kann so endlich Wirklichkeit wer«Heute schon kann man beobachten, dass Jugendliche dank Facebook und Twitter beginnen, sich kooperativer zu verhalten», sagt Rifkin und fügt hinzu: «Die Kehrseite davon ist, dass auch der Narzissmus zunimmt, dass die Menschen zunehmend wie Schauspieler auf der Bühne stehen. Die Jugendlichen werden beides, toleranter und selbstverliebter.»

Nicht nur Jeremy Rifkin macht sich Gedanken darüber, welche sozialen Veränderungen eine digitale Wirtschaft bringen wird. Zu teilweise ähnlichen Schlüssen kommt zum Beispiel auch Chris Anderson, Chefredaktor der IT-Zeitschrift «Wired» und Autor des Bestseller «The Long Tail». Darin skizziert er die Umrisse einer entstehenden digitalen Ökonomie. In der Musikindustrie ist sie bereits weit fortgeschritten, denn Musik wird schon weitgehend digital transportiert.

Das bedeutet: Es gibt keine Transport- und Lagerkosten und kein 20:80-Prinzip mehr. Darunter versteht man ein Phänomen im Handel, das man nicht rational erklären, aber stets aufs Neue beobachten kann: 20 Prozent der Titel sorgen für 80 Prozent des Umsatzes.

Nur im traditionellen Teil der Musikindustrie ist dieses Phänomen noch zu beobachten. Stellt man die Verkäufe der Tonträger in einem Diagramm dar – auf der vertikalen Achse den Titel und auf der horizontalen Achse den Umsatz –, erhält man eine Kurve, die links oben hoch anfängt, zunächst steil abfällt und dann mehr oder weniger parallel entlang der Horizontalachse verläuft. Dieser «lange Schwanz» repräsentiert zahlreiche Tonträger mit minimalen Verkaufszahlen. Solange CDs in Plattenläden verkauft und aufbewahrt werden, muss auch das Sortiment dem 20:80-Prinzip untergeordnet werden. Das bedeutet: Die Auswahl der Titel ist klein, und was sich im Bereich des «langen Schwanzes» befindet, fliegt raus. In der digitalen, transport- und lagerkostenlosen Welt hingegen ändert sich dies fundamental. Jetzt wird es auch ökonomisch sinnvoll, selbst kleinste Auflagen im Sortiment zu behalten. Nicht nur Stars, sondern auch Unbekannte und Amateure erhalten nun eine Chance. «Das ist die Welt der Blogger, der Videofilmer und der Garagenbands, die plötzlich ein Publikum erhalten, weil sie von der digitalen Distribution profitieren», stellt Anderson fest.

Anderson kommt zu Schlüssen, die stark an Rifkins empathische Zivilisation erinnern. Die digitale Ökonomie ebnet die Hierarchien ein, die Grenzen zwischen Profis und Amateuren werden fliessend.

«Wenn die Werkzeuge zur Produktion allen zur Verfügung stehen, werden alle zu Produzenten», heisst es bei Anderson. In vielen Bereichen der Wirtschaft zeichnet sich eine hybride Form von analogen und digitalen Welten ab. Oder wie Anderson es formuliert: «Heute ist unsere Kultur zunehmend eine Mischung aus Kopf und Schwanz, Hits und Nischen, Institutionen und Individuen, Profis und Amateuren. Die Massenkultur wird nicht verschwinden, sie wird ganz einfach weniger Masse.»

Auf eine entscheidende Frage haben aber weder Anderson noch Rifkin eine überzeugende Antwort: Was geschieht mit den multinationalen Konzernen, die heute die Szene dominieren? Werden die aktuellen Monopolisten wie iTunes, Facebook, eBay oder Amazon klaglos das Feld räumen? Chris Anderson glaubt das tatsächlich. Er spricht im Zusammenhang mit diesen Riesen von «vorübergehenden Kinderkrankheiten». «Die Zukunft gehört den aggregierten Nischenanbietern», prophezeit er. Ähnlich sieht auch Rifkin die Zukunft grundsätzlich in rosa Farben. Die Monopolmacht der Energiekonzerne werden einen sanften Ökokapitalismus nicht verhindern. «Die dritte industrielle Revolution und die neue Ära des dezentralisierten Kapitalismus ermöglichen es, einen neuen Weg der Globalisierung zu beschreiten: von unten nach oben, weitgehend emissionsfrei, gestützt auf regenerative und regional gewonnene Energien, aber weltweit vernetzt», hält er fest. Immerhin fügt er hinzu: «Dieser Weg muss aber erkämpft werden, er versteht sich nicht von selbst.»

Ist Jeremy Rifkin nun ein Schwärmer, ein Scharlatan oder ein visionärer Denker? Er erinnert an George Orwell. Der englische Autor griff einst mit Zukunftsromanen wie «1984» auf faszinierende brennende Fragen der Gesellschaft seiner Zeit auf und gab die Antworten auf frustrierende Art nur zum Teil. Auch Rifkin legt den Finger auf den wunden Punkt: Ohne Zweifel wird die Gesellschaft des 21. Jahrhunderts massgeblich von Energiefragen und vom Internet geprägt sein. Soziale Medien und ein Smartgrid werden dabei eine entscheidende Rolle spielen. Doch sie werden uns nicht automatisch in eine empathische Zivilisation und einen dezentralisierten Ökokapitalismus führen. Die Oligarchen werden nicht freiwillig abtreten, Weise ihre wirtschaftlichen Interessen sind viel zu bedeutend.

Philipp Löpfe studierte Anglistik und Ethnologie. Von 1999 bis 2002 war er Chefredaktor des Zürcher «Tages-Anzeigers». Löpfe arbeitet heute als freier Journalist und Buchautor.

*Dieses Interview ist zuerst erschienen im Magazin von Greenpeace Schweiz, Ausgabe 4/2012, als Teil des Schwerpunkts «DANACH».