Die Bevölkerung in Japan nimmt seit Jahren ab. Die zunehmend hohe Lebenserwartung der Senioren fordert der jungen Generation viel unbezahlte Leistung ab.

Von Judith Brandner

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© Keystone/AP/Junji Kurokawa

 

In der japanischen Präfektur Nagano gibt es einen Berg namens Obasuteyama – der Berg, auf dem die Alten ausgesetzt werden. Dazu gibt es eine Legende. Eine Version besagt, dass die über 60-Jährigen in früheren Zeiten freiwillig auf den Berg gingen, um den Nachkommen nicht zur Last zur fallen. Eine andere Variante geht so, dass der Sohn die alte Mutter zum Sterben hinaufbringt. Als er bemerkt, dass sie unterwegs die Äste von den Bäumen knickt, damit er den Rückweg wieder findet, ist er von ihrer Liebe zu Tränen gerührt und nimmt sie wieder mit hinunter.

Der japanischen Realität entspricht diese Legende natürlich nicht. Wahr ist, dass Japan vor einigen Jahren ins Zeitalter der Entvölkerung eingetreten ist. Dieser Befund mag angesichts der Massen in den Ballungszentren verwundern, aber ohne massives Gegensteuern wird die japanische Bevölkerung von heute 127 Millionen in den kommenden Jahrzehnten jährlich um eine Million zurückgehen, so die Prognosen. 2060 wird Japan nach Schätzungen des Gesundheits- und Wohlfahrtsministeriums nur mehr 87 Millionen EinwohnerInnen haben. Bis dahin werden 40 Prozent der Bevölkerung über 65 Jahre alt sein. Die Herausforderung für die Gesellschaft ist die grosse Zahl pflegebedürftiger Menschen (derzeit rund sechs Millionen) und der Mangel an Pflegepersonal. Pflege wurde in Japan traditionell als Aufgabe der Frauen betrachtet, vor allem als Pflicht der Ehefrau des ältesten Sohnes, der im Elternhaus lebt. Und auch wenn die Traditionen aufbrechen, liegt der Prozentsatz alter Menschen, die von ihren Kindern gepflegt werden, immer noch um ein Vielfaches höher als im Westen. 

Die Politik reagiert hilflos

Ein Besuch bei Junko Yoshida in Kioto beleuchtet die Problematik. Die ehemalige Lehrerin an einer Kunstschule ist 70 Jahre alt, ihr Ehemann ist 74. Seit mehr als zwei Jahren pflegt sie ihre 94-jährige Mutter, die im gemeinsamen Haushalt lebt. Nach einem Hitzschlag hatte sich der Zustand der alten Dame verschlechtert und sie musste mehrmals ins Spital. Mit 84 brach sie sich den Fuss, seither kann sie nur noch schlecht gehen. Schliesslich bat die Mutter die Tochter, sie bei sich aufzunehmen. In ein Altersheim habe sie nie gehen wollen, denn für ihre Generation sei es selbstverständlich, dass sich die Kinder um sie kümmerten, sagt Junko Yoshida. Heimplätze sind zudem rar. Einen bis zwei Tage die Woche verbringt die Mutter in einem Tagespflegeheim, das entlastet die Yoshidas ein wenig. Einmal pro Monat kommt eine Angestellte der Stadt Kioto auf Besuch, die den Pflegenden zur Seite steht. Trotz dieser Hilfe fühlen sich die Yoshidas oft erschöpft und überfordert. 

Die demografische Entwicklung verläuft so rasant, dass die staatlichen Institutionen mit ihren Massnahmen hinter ihr herhinken. Und die Frauen von Japan, das längst ein globalisiertes Industrieland ist wie etwa Österreich oder die Schweiz, zeigen immer weniger Lust, den Weg ihrer Mütter und Grossmütter zu gehen. Das hat Auswirkungen in der Gesellschaft: Wie können die Pensionen gesichert und wie kann für ausreichend Pflegepersonal gesorgt, wie der Überalterung auf dem Arbeitsmarkt und dem drohende Arbeitskräftemangel gegengesteuert werden? Auf diese Fragen reagiert die Politik hilflos. 2007 erreichte die erste Generation der Babyboomer das Pensionsalter – um die Lücke zu schliessen, wurde das Pensionsalter auf 65 Jahre angehoben. Weitere Erhöhungen sind angekündigt.

 


Der Nachwuchs in Japan ist mit einer immer älter werdenden und vor allem rüstigen Bevölkerung konfrontiert. © Keystone/EPA/Franck Robichon

 

Die Lage ist dramatisch

Das Fehlen von Zuwanderung ist einer der Gründe, weshalb die Bevölkerung in Japan zurückgeht, die niedrige Fruchtbarkeitsrate , die mit 1,3 Kindern pro Frau unter dem Bestandserhalt liegt, sowie die welt-weit höchste Lebenserwartung sind weitere. Das Zusammentreffen dieser Phänomene ist ein Zufall, macht aber die Lage enorm dramatisch. Ein Grund für die Entwicklung liegt in der rapiden Veränderung der Gesellschaft nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Japans junge Frauen sind heute sehr gut ausgebildet, emanzipiert und berufstätig. In dem Mass, wie der Anteil der erwerbstätigen Frauen steigt, geht die Geburtenrate zurück, konstatiert Florian Coulmas, Direktor des Deutschen Instituts für Japanstudien in Tokio und Leiter eines grossen Forschungsprojekts zum Bevölkerungswandel. Viele Frauen arbeiteten aus ökonomischen Gründen, unter anderem um die hohen materiellen Ansprüche in der kapitalistischen Gesellschaft befriedigen zu können, sagt Coulmas. 

Die meisten Jungen leben bei den Eltern

Immer weniger junge Frauen entscheiden sich für eine Ehe. Das wirkt sich massiv auf die Fruchtbarkeitsrate aus, denn traditionellerweise bekommen nur verheiratete Frauen Kinder. Rund ein Drittel der jungen Frauen zwischen Mitte zwanzig und dreissig gibt in Umfragen an, nicht die Absicht zu haben, je zu heiraten. Die Soziologin Sawako Shirahase von der Universität Tokio erklärt: «Sobald sie heiraten, müssen sie sich um die Kinder kümmern, den Arbeitsmarkt verlassen und können ihre Karriere nicht mehr weiter-verfolgen.» Work-Life-Balance ist zwar ein Schlagwort, das Regierung und Unternehmen gleichermassen propagieren, doch in der Praxis ist die Vereinbarkeit von Beruf, Familie und Kindern überaus schwierig. 80 Prozent aller unverheirateten jungen Leute in ihren Zwanzigern und Dreissigern leben noch bei ihren Eltern, auch dies oft aus ökonomischen Gründen. Aus der eher düsteren Situation entstehen aber auch neue Ideen. Der sogenannte «Silver Market» etwa ist ein wichtiger Geschäftszweig geworden – vom Mobiltelefonhersteller bis zur Sport- und Reisebranche hat die Wirtschaft die kaufkräftige und rüstige Zielgruppe der 60- bis 70-Jährigen entdeckt und bietet massgeschneiderte Produkte an. Die Entwicklung von Robotern für Pflege und Rehabilitation ist ein zukunftsträchtiges Forschungsgebiet. Es gibt etwa die Kuschelrobbe Paro, die zu streicheln sich auf das Verhalten Demenzkranker positiv auswirkt. Geforscht wird zudem am Ri-Man, einem Roboter, der nach einem Befehl an taktile Sensoren einen Patienten hochheben, halten und tragen kann. Für die Entwicklung künftiger Robotergenerationen werden die Neuroinformationstechnologien eine grosse Rolle spielen. Dabei geht es unter anderem um das sogenannte Brain Robot Interface BRI, eine Schnittstelle zwischen Gehirn und Roboter, die es ermöglicht, Bewegungen des Roboters mit Gedanken zu steuern. Das spezifische Gehirnmuster des Gedankens «Geh vorwärts» oder «Geh zurück» wird an das Interface gesendet und von dort weiter zum Roboter, der das Muster in die Tat umsetzt. Diese Schnittstelle zwischen menschlichem Gehirn und Roboter ist für Menschen gedacht, die Schwierigkeiten mit dem Sprechen haben. 

Geforscht wird auch am Design von Pflegerobotern: Sie müssen sicher und einfach zu bedienen sein. Dieses Ziel ist wohl realistischer als eine Zuwanderung aus dem Ausland, welche die demografische Fehlentwicklung korrigieren könnte: Japan war nie ein Einwanderungsland und wird bei der heutigen Politik auch nicht dazu werden. Ausnahmen sind Frauen aus asiatischen Nachbarländern, die als Ehefrauen für Bauern in ländlichen Gebieten angeworben werben. In den vergangenen Jahren wurden auch einige tausend asiatische Pflegerinnen aufgenommen, die allerdings schwierige Sprachprüfungen und Ausbildungen absolvieren mussten, was nur wenige schafften. Langfristig wird wohl ein kleineres Japan übrigbleiben. Die demografische Entwicklung scheint derzeit in den Hintergrund zu treten, weil die Anstrengungen, die Lage um das havarierte AKW Fukushima in den Griff zu bekommen, sämtliche Kräfte beanspruchen.


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