Überwachung, Kontrolle, Zerfall: Dem Internet geht es zurzeit nicht gut. Was als Utopie der letzten grossen Wildnis begann, ist zum perfekten Überwachungsapparat geworden. Nun liegt es an den Nutzern, das Netz zurückzuerobern.

Von Samuel Schlaefli

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Die «re:publica» ist ein guter Ort, um dem Internet den Puls zu fühlen. Während drei Tagen im Mai versammeln sich im alten Postbahnhof von Berlin Kreuzberg mehr als 5000 Blogger, Netzaktivisten, Social-Media-Strategen und Journalisten. Über 300 Redner widmen sich dem Thema Internet und es werden Dutzende von Paneldiskussionen durchgeführt. Nirgends zeigt sich besser, was die digitale Gesellschaft bewegt. Sascha Lobo, der bekannteste Internet-Erklärer Deutschlands, brachte die Sache gleich am ersten Tag in seiner «Rede zur Lage der Nation» auf den Punkt: «Das Internet ist kaputt, die Idee der digitalen Vernetzung ist es nicht.»
Die Anwesenden waren sich einig: 2014 war die politischste «re:publica» aller Zeiten. Praktisch kein Vortrag, in dem nicht politisches Asyl für Edward Snowden gefordert wurde. Sarah Morris von Wikileaks berichtete von ihrer Zusammenarbeit mit dem Whistleblower und weshalb sie seit der Eskortierung von Snowden von Hongkong nach Russland nicht mehr in ihre Heimat England einreisen kann. Eric King von Transparency International gab Einblicke in die Machenschaften des NSA-Geheimdienstverbundes Five Eyes. Der Oxford-Professor Viktor Mayer-Schönberger referierte zu den ethischen Grenzen von Big Data und der IT-Sicherheitsexperte Mikko Hyppönen präsentierte sein Manifest für digitale Freiheit.
Das Motto der «re:publica» 2014 hiess «Into the Wild». Doch damit meinten die Veranstalter nicht die Wildnis, grenzenlose Freiheit und Spielfreude, für die das Internet einst angetreten war. Damit meinten sie vielmehr den Wildwuchs von Überwachung, Kontrolle, Datensammlung und -auswertung, der unsere Freiheit im Internet zunehmend erstickt.

Die «re:publica» ist ein guter Ort, um dem Internet den Puls zu fühlen. Während drei Tagen im Mai versammeln sich im alten Postbahnhof von Berlin Kreuzberg mehr als 5000 Blogger, Netzaktivisten, Social-Media-Strategen und Journalisten. Über 300 Redner widmen sich dem Thema Internet und es werden Dutzende von Paneldiskussionen durchgeführt. Nirgends zeigt sich besser, was die digitale Gesellschaft bewegt. Sascha Lobo, der bekannteste Internet-Erklärer Deutschlands, brachte die Sache gleich am ersten Tag in seiner «Rede zur Lage der Nation» auf den Punkt: «Das Internet ist kaputt, die Idee der digitalen Vernetzung ist es nicht.»

Die Anwesenden waren sich einig: 2014 war die politischste «re:publica» aller Zeiten. Praktisch kein Vortrag, in dem nicht politisches Asyl für Edward Snowden gefordert wurde. Sarah Morris von Wikileaks berichtete von ihrer Zusammenarbeit mit dem Whistleblower und weshalb sie seit der Eskortierung von Snowden von Hongkong nach Russland nicht mehr in ihre Heimat England einreisen kann. Eric King von Transparency International gab Einblicke in die Machenschaften des NSA-Geheimdienstverbundes Five Eyes. Der Oxford-Professor Viktor Mayer-Schönberger referierte zu den ethischen Grenzen von Big Data und der IT-Sicherheitsexperte Mikko Hyppönen präsentierte sein Manifest für digitale Freiheit.

Das Motto der «re:publica» 2014 hiess «Into the Wild». Doch damit meinten die Veranstalter nicht die Wildnis, grenzenlose Freiheit und Spielfreude, für die das Internet einst angetreten war. Damit meinten sie vielmehr den Wildwuchs von Überwachung, Kontrolle, Datensammlung und -auswertung, der unsere Freiheit im Internet zunehmend erstickt.

Unendliche Überwachung

Etwas Fundamentales ist geschehen. Etwas, das die digitale Gesellschaft, in die wir erst gerade hineingewachsen sind, in ihren Grundfesten erschüttert. Digital Natives sprechen bereits von einer Zeitenwende: den Jahren vor und denjenigen nach Snowden. Bis vor kurzem noch stellten wir uns das Internet als Raum vor, in dem wir uns frei und anonym bewegen können. Als Raum, in dem wir in Rollen schlüpfen, die wir sonst nirgends ausleben; in dem wir Bilder anschauen, von denen wir nicht wollen, dass unsere Freunde und Geschäftspartner wissen, dass wir sie anschauen; in dem wir Dinge sagen, die wir sonst nie auszusprechen wagten. Das war einmal. Heute wissen wir: Dieser Raum ist voller Überwachungskameras, Abhörtechnik und Spione.

 «Das Datencenter ist eine Blackbox mit industriellen Dimensionen; kapitalintensiv, komplex und undurchsichtig.»

Snowdens engster Vertrauter, Glenn Greenwald, der die geleakten NSA-Dokumente für den britischen «Guardian» auswertete, beschreibt den Paradigmenwechsel im Umgang mit persönlichen Daten wie folgt: «Die NSA braucht keinen bestimmten Anlass, damit sie Daten auswertet. Sie denkt sich vielmehr: Wir hören eure Telefonate ab, schauen in eure E-Mails und Internetaktivitäten, speichern sie und werten sie aus – aus dem einfachen Grund, weil es sie gibt.» Das klingt ein wenig wie George Orwells «1984», nur ist die Überwachung leiser, diskreter und perfider.

Felix Stalder, Professor für Digitale Kultur und Netzwerktheorien an der Zürcher Hochschule der Künste, spricht in diesem Zusammenhang von der «zweiten digitalen Phase». Während sich in der ersten Phase noch alles um ungehinderte und erweiterte Kommunikation gedreht habe, stehe die zweite Phase im Zeichen des uneingeschränkten Sammelns und Auswertens von Daten. Symbol dieser zweiten Phase sei das Datencenter – «eine Blackbox mit industriellen Dimensionen, kapitalintensiv, komplex und undurchsichtig».

An solche Datencenter werden heute Teile von politischen Entscheidungen ausgelagert. Indem sie Daten von verdächtigen Handysignalen auswerten, entscheiden die Rechner mit, ob eine afghanische oder jemenitische Hochzeitsgesellschaft mittels einer Drohne beschossen wird oder nicht. Und sie ermächtigen Geheimdienste, Bürger ohne jeden Verdacht auszuhorchen. Die Datencenter sind zu einer Gefahr für die Demokratie geworden.

Die Netz-Übermacht USA

Die Lust am Datensammeln ist nicht neu. «Überwachung war für Regierungen schon immer ein Mittel, um soziale Bewegungen zu identifizieren und zu diskreditieren», sagt der Berliner Internetaktivist Stephan Urbach. Egal ob Martin Luther King, die indigene Bevölkerung Chiles oder die Umweltbewegung in Deutschland, sie alle wurden ausgehorcht. «Nur die Allgegenwart und Perfektion der Überwachung ist neu.» Urbach sass zweieinhalb Jahre für die Piraten als Referent für Internetfreiheit im Bundestag. Für ihn war ein unkontrolliertes, egalitäres und demokratisches Internet stets eine Illusion: «Die USA waren im Internet schon immer eine Hegemonialmacht.»

Das hat gleich mehrere Gründe: Das Internet wurde im Rahmen eines Forschungsprojekts des US-Verteidigungsministeriums entwickelt. Der Grossteil der physischen Infrastruktur steht bis heute in den Vereinigten Staaten. Die wichtigsten Entscheidungsgremien, die über Regulierungen und Protokolle im Internet bestimmen, sind von Amerikanern dominiert; unter anderem von der Internet Engineering Task Force (IETF). Über 70 Prozent der Anträge, die zwischen 1986 und 2012 bei der IETF eingingen, wurden von amerikanischen Ingenieuren verfasst. Sie führen oft zu neuen technischen Spezifikationen und Standards. Allein das US-Unternehmen Cisco, dessen Router und Switches zu den wichtigsten Bestandteilen der Netzinfrastruktur gehören, hat mehr Anträge produziert als ganz China. Auch die höchste hierarchische Instanz des Internet-Namenssystems liegt in den Händen der USA: die Internet Cooperation for Assigned Names and Numbers (ICANN). Sie kann zusammen mit der Oberaufsicht der amerikanischen Telekommunikations- und Informationsbehörde (NTIA) praktisch im Alleingang über die Vergabe von neuen Domain-Namen, also zum Beispiel .org oder .ch, entscheiden. «All das hat uns lange Zeit nicht gestört, denn es funktionierte ja alles prima», sagt Urbach. «Doch im Zuge der NSA-Enthüllungen fühlen wir uns plötzlich zum ersten Mal so richtig machtlos.»

Das führt nicht nur bei Internetnutzern zu Frustration und Unsicherheit, sondern auch bei Regierungen. Seit Jahren beklagen China und Russland die Netzübermacht der USA. Angela Merkel hat nach dem Skandal um die Abhörung ihres Handys angekündigt, dass Deutschland gemeinsam mit Frankreich die Entwicklung eines EU-Internets in Betracht ziehe. Die Deutsche Telekom arbeitet bereits an Plänen für ein deutsches «Internetz», das auf die EU ausgeweitet werden könnte.

Ähnlich wie Merkel reagierte auch die brasilianische Präsidentin Dilma Rousseff. Ihre Regierung wollte Unternehmen wie Google und Facebook dazu verpflichten, ihre Datencenter für die Kommunikation in Brasilien vor Ort zu platzieren – zusammen mit einem Vertreter des Unternehmens. Die entsprechenden Passagen wurden im April 2014 zwar aus dem «Marco Civil da Internet» gekippt, eine Stärkung der nationalen Datenhoheit beinhaltet er aber nach wie vor.

Auch in der Forschung ist die Dezentralisierung des Internets ein Thema: Computerwissenschaftler der Zürcher ETH und der amerikanischen Carnegie Mellon University tüfteln an einem weltumspannenden Netz von regionalen Subnetzen. Letztere würden nationalen Aufsichten unterstehen. Damit lägen die Regulierung und die Domainvergabe unter Staatshoheit.

Für Internetgiganten ist die angedachte Nationalisierung des Internets ein Horrorszenario: Vergangenen Dezember schalteten Facebook, Google, Apple, Twitter, LinkedIn, Yahoo, AOL und Microsoft ganzseitige Inserate in den grössten amerikanischen Tageszeitungen. In einem gemeinsamen offenen Brief an die Regierungen dieser Welt forderten sie die «Respektierung des internationalen Datenverkehrs». Die Forderung ist wenig überraschend: Eine Fragmentierung des Netzes würde ihr Geschäftsmodell aushöhlen.

Doch nicht nur die Industrie ist besorgt. Auch Internetaktivisten und Wissenschaftler wehren sich gegen die Zerstückelung des Netzes. Sie fürchten eine «Balkanisierung des Internets», ein Patchwork von nationalen Netzen mit unterschiedlichen und zum Teil nicht kompatiblen Regulierungen. Paul Fehlinger vom Internet and Jurisdiction Project, einer Organisation mit Sitz in Paris, die für die Rettung des heutigen globalen Systems kämpft, warf kürzlich in einem Artikel die provokante Frage auf: «Werden wir in Zukunft Online-Visa benötigen, um überhaupt noch im Cybernet reisen zu dürfen?»

Das Darknet – die letzte Wildnis im Cyberspace

Für den Netzwerkexperten Felix Stalder sind solche Befürchtungen verfrüht. «Die gesellschaftlichen und ökonomischen Kosten für eine Nationalisierung des Internets wären zu hoch.» Seine Prognose geht in eine andere Richtung: Unterschiedliche Akteure würden künftig versuchen, die Kontrolle über die bestehende Netzinfrastruktur zurückzuerobern. Solches ist bereits geschehen. Web-Nerds haben in den vergangenen Jahren ihr eigenes, vor Überwachung und Kontrolle geschütztes Netz erschaffen. Das Darknet ist die letzte wilde Ecke im Cyberspace: ein Subnetz mit lauter Seiten, die von keinem gewöhnlichen Browser gefunden werden. Es vereint Netzwerktechnologien für die Datenanonymisierung und -verschlüsselung und ist von aussen weder beobachtbar noch kontrollierbar. Zwar werden Daten über dieselben Kupfer- und Glasfaserkabel geschickt wie im offiziellen Netz. Doch für die Übermittlung werden andere Protokolle benutzt. Wer im Darknet surft, taucht mit seiner Kommunikation weder auf einem Geheimdienstbildschirm auf noch landet diese in der Google-Ads-Maschinerie. Das Darknet ist die digitale Wildnis 2.0, der virtuelle Raum ohne Regeln. Surfer berichten von Kopfgeldjäger-Börsen, von florierendem Waffenhandel und dem Vertrieb von Pornografie.

«Das Darknet ist die digitale Wildnis 2.0, der virtuelle Raum ohne Regeln.»

Vergangenen Oktober machte das Darknet international Schlagzeilen. Das FBI kam dem Gründer der Verkaufsplattform Silk Road auf die Spur, die oft mit Amazon verglichen wird – nur dass auf Silk Road nicht Bücher, sondern illegale Drogen gehandelt werden. 340 verschiedene Drogenarten waren über die Plattform zeitweise erhältlich, von Haschisch über Ecstasy bis zu Heroin. Käufer bestellten sich die Ware nach Hause und bezahlten mit der Internetwährung Bitcoin. Als das FBI den Betreiber Ross William Ulbricht in San Francisco verhaftete, wurden 25 Millionen Dollar in Form von Bitcoins eingefroren. Mittlerweile ist Silk Road in veränderter Form wieder online.

Stephan Urbach wehrt sich gegen rein negative Assoziationen: «Das Darknet wird in der Öffentlichkeit bewusst diffamiert, weil die Politik Angst davor hat, die Kontrolle übers Internet zu verlieren.» Silk Road, Kinderpornografie und andere illegale Aktivitäten machten nur einen kleinen Teil aus. Der weit grössere Teil diene lauteren Absichten. So nutzen Urbach und die Hackergruppe Telecomix das Tor-Netzwerk, den wahrscheinlich grössten Teil des Darknet, um syrische Widerstandskämpfer zu unterstützen. Obschon das Regime von Bashar al-Assad sämtliche Internetaktivitäten im Land überwacht, gelingt es Urbach, sichere, vom offiziellen Internet losgelöste Chats zu organisieren, in denen sich syrische Aktivisten austauschen können. Zugleich finden Journalisten und Aktivisten im Tor-Netzwerk Werkzeuge, um sich vor Verfolgung zu schützen: zum Beispiel Programme, die Gesichter in Filmaufnahmen automatisch verwischen, sämtliche Metadaten der Aufnahme (Ort, Zeit und Aufnahmegerät) löschen und das Video schliesslich auf Youtube hochladen. So kommen über das Tor-Netzwerk Aufnahmen von Kriegsverbrechen und Menschenrechtsverletzungen anonymisiert an die Öffentlichkeit, ohne dass ihre Urheber um ihr Leben fürchten müssen.

Heute surfen täglich rund zwei Millionen Nutzer aus 110 Ländern im Tor-Netzwerk. Das sind doppelt so viele wie vor dem NSA-Skandal. Anonymität und Verschlüsselung wird in der Post-Snowden-Ära zum dringlichen Bedürfnis. Für Aktivisten, Vertreter der Zivilgesellschaft und NGOs werden sie zunehmend zur Pflicht. Das globale Netzwerk AVAAZ zum Beispiel rief vor wenigen Wochen zu Spenden für eine verbesserte Sicherheitsinfrastruktur auf, nachdem Computer von Mitgliedern gehackt und Aktivisten in Ägypten von furchteinflössend gut informierten Polizisten verhört worden waren. «Ich erhalte heute vermehrt Anfragen von NGOs und Journalisten, die nach Möglichkeiten suchen, ihren Internetverkehr gegen fremde Zugriffe zu sichern», erzählt Urbach. Kürzlich habe er für Médecins sans Frontières in Frankreich und Schweden Workshops zu einfachen und kostenlosen Verschlüsselungs-Tools abgehalten. «Unentgeltlich, alles andere wäre unethisch. Schliesslich bin ich ein Aktivist!»

Verschlüsseln, verschlüsseln, verschlüsseln!

Für Internet-Professor Felix Stalder liegt in der Kryptografie ein wichtiger Schlüssel, um die Freiheit im Internet zurückzugewinnen: «Heute, wo wir im Internet praktisch alles von uns preisgeben, kostet die Überwachung fast nichts. Deshalb wird alles überwacht. Doch je besser wir unsere Kommunikation schützen, desto teurer wird die Überwachung und desto weniger findet sie statt.» Die Mittel dazu existieren, zum Beispiel über das kostenlose OpenPGP-Protokoll zur Verschlüsselung von E-Mails und Textfiles. PGP steht für Pretty Good Privacy.

Das Problem: Die Anonymisierung bedeutet Mehraufwand für den Nutzer. Leider sind die meisten User etwas bequem geworden und haben vergessen, dass die immer einfachere Bedienbarkeit des Web 2.0 Hand in Hand mit abnehmenden Persönlichkeitsrechten gegangen ist. All die praktischen und vermeintlich kostenlosen Internetangebote – Social Media, E-Mail, News, Film, Shopping und Apps – bezahlen wir teuer: mit immer mehr persönlichen Daten.

Vielleicht weckt uns Snowden aus dem Dornröschenschlaf und es folgt die dritte Phase des Internets: diejenige des digitalen Ungehorsams. Das wird zwar etwas mühsam und aufwändig, doch am Ende ist es vielleicht der einzige Weg, wie wir unsere Freiheit im Internet zurückerobern können.