Der Bieler Facharzt für Viszeralchirurgie Dr. Jérôme Tschudi (http://www.dr-tschudi.ch/) erfüllt sich einen langgehegten Traum und ist als Arzt und Crew-Mitglied derzeit bis Mitte Mai in Brasilien auf dem Greenpeace-Schiff Esperanza – und berichtet uns hier ungefiltert von seinen Erlebnissen und Eindrücken. Die Tour ist Teil der Kampagne zum Schutz des erst kürzlich entdeckten und von Greenpeace erforschten Amazonas-Riffes vor der brasilianischen Küste. Leider haben die Ölkonzerne ein Auge auf die Region geworfen, die als einzigartiges, ja neuartiges Ökosystem gilt. (https://www.greenpeace.ch/act/amazonas-riff/)

Jérôme Tschudi ist Teil einer wissenschaflichen Expedition. Sie soll die Basis legen, das bisher fast unerforschte ökologisch sensible und wertvolle Gebiet zu einem Meeresschutzgebiet zu machen, wo Fischerei-Aktivitäten und Ölbohrungen verboten sind. Ein WissenschaftlerInnen-Team ist mit an Bord und wird – u.a. mit einem ROV-U-Boot – Daten sammeln und das Riff dokumentieren. Das wird helfen, die Risiken und Konsequenzen von Ölbohrungen in dem ökologisch wertvollen Gebiet zu benennen, eine mögliche Schutzzone zu erarbeiten und die PolitikerInnen und die Bevölkerung davon zu überzeugen, dass es da unbedingt ein Meeresschutzgebiet braucht. 

Jerôme Tschudi sagt: «Ich freue mich, Leute kennenlernen, die sich aus Überzeugung und ohne persönlich Profit daraus zu schlagen für die Umwelt einsetzen, ihre Ideen, ihre Motivation, ihre Freuden und Ängste. Meine ganz grosse Hoffnung ist, dass wir es einmal schaffen, 40% der Weltmeere unter Schutz zu stellen.»


Sonntag, 15.4.18
Wie bisher hielt auch der gestrige Tag seine Überraschungen für unser Team bereit. Zunächst kollidierte das Gerät zur Entnahme der Bodenproben offenbar mit einem Stein und war nachher nicht mehr zu öffnen. Zwe Mechanikern gelang es schliesslich, die Probe zu entnehmen und die verbogenen Achse wieder zu richten. Die gute Nachricht war, dass der Artikel Ronaldos und seiner Mitarbeiter zur letztjährigen Expedition zur Publikation akzeptiert wurde und demnächst schon einmal digital erscheint.
Auf meiner Wache spielt mein Offizier Musikstücke ab, meist zur Unkenntlichkeit verzerrte Coverversionen bekannter und erfolgreicher Songs, mit viel Elektronik drapiert und extrem repetitiv mit prominentem Schlagzeug unter-, pardon übermalen. Er findet diese Musik selbstredend sehr schön, ich enthalte mich der Stimme. Überhaupt habe ich auf der Esperanza kaum mir bekannte Musikstücke gehört, verschweige denn solche, die mir gefallen würden. An der Musik spüre ich den Generationenunterschied am meisten.
Der heutige sonntägliche Ruhetag wird eingehalten, es arbeiten nur die Wissenschaftler und Campaigner und die Küchenmannschaft.


Samstag, 14.4.18
Die eigentliche Forschungsarbeit ist nun voll angelaufen: Wir fahren die Planquadrate ab, in deren Bereich Probebohrungen bewilligt wurden und deren Untergrund wir bereits mit dem Sonar analysieren konnten. Die starke Strömung verbietet den Einsatz des Tauchroboters. Dagegen funktioniert die Entnahme von Bodenproben. Hierfür wird ein Chromstahlgerät eingesetzt, das sehr schwer ist und mit dem Kranen manipuliert werden muss. Schlägt es auf dem Meeresgrund auf, löst dies den Verschlussmechanismus aus, und eine Art Baggerschaufel schnappt sich eine Probe, die sie sicher einschliesst. Fabio hängt seine Go-Pro-Kamera in wasserdichter Hülle an das Halteseil des Geräts. Die Hülle ist bis 60m garantiert wasserdicht, sie bleibt dicht bis 110m, tiefer versagt die Kamera und zeichnet keine Bilder mehr auf. Sie filmt den Aufprall am Meeresgrund. Man sieht, wie die Strömung die Sandwolke wegtreibt. Mit jeder Welle wird das Gerät vom Meeresboden angehoben und schwebt dann einige Meter weiter, bevor es wieder am Boden aufprallt und eine neue Sandwolke auslöst. Infolge der Strömung ist die Sicht immer optimal. Dann kommt der Bootsmann auf die Idee, die hochauflösende Unterwasserkamera dem Gerät für die Bodenproben anzuhängen, womit sie zum Meeresboden gebracht werden kann. Wir können so endlich eine grössere Strecke des Meergrundes filmen. Die 35-jährige Usnea ist ein einzigartiges Energiebündel aus den USA. Von Beruf ist sie Pädagogin für Behinderte, arbeitet jedoch seit Jahren als Aktivistin für Greenpeace. «Us» nutzt jede freie Minute für ihr Krafttraining, «läuft» z.B. im Handstand über das schwankende Deck oder macht Übungen an einer an der Decke des Achterdecks montierten Stange. Sie möchte gerne längere als 3-monatige Einsätze fahren, aber ihr Freund würde das nicht mitmachen…


Freitag 13.4.18
Die gestrige Rettungsaktion hat Emotionen ausgelöst und Fragen aufgeworfen. Die Besprechung findet noch am selben Abend bei versammelter Crew auf dem Achterdeck statt. Jede Teilnehmerin, jeder Teilnehmer kann sich frei äussern. Zunächst wird kritisiert, dass zu wenig kommuniziert wurde. Auf der Esperanza wusste niemand, dass ein Boot seinen Propeller aus einem Fischernetz befreien musste, was zeitaufwändig gewesen war. Der Motorschaden war «nur» ein Absturz des Bordcomputers, was erst viel später bemerkt wurde. Vom Abschleppen dieses schweren Schlauchbootes erfuhr man auf dem Mutterschiff erst, als das Benzin auszugehen drohte. An Land wurden die Boote nicht aufgetankt und es hatte niemand an die Strömung und den dadurch vermehrten Treibstoffverbrauch gedacht. Es bestand kein Plan B für den Fall, dass Probleme auftreten. Auf den vier Booten nahm niemand eine klare Führungsverantwortung wahr, und ein Nachteinsatz war nicht eingeplant worden. Im Gewitter wurde die Crew tropfnass und bei auffrischendem Wind fror sie — selbst in den Tropen. Die Kritikpunkte werden aufgelistet, besprochen und der erste Offizier fasst die daraus abzuleitenden Massnahmen zusammen. Die Diskussion hat sachlich stattgefunden, alle haben ihr Fett weggekriegt und die Emotionen haben sich gelegt. Der Feierabend kann nun beginnen. Der ganze Tag ist der Gewinnung von Bodenproben gewidmet, praktisch ausschliesslich Sand. In der einen Probe findet sich ein ausgewachsenes Zwergkrebslein von ca. 5 mm Durchmesser mit einem Ballen Eier am Körper. Ronaldo wusste nicht, dass es so kleine Krebse überhaupt gibt.


Donnerstag 12.4.18
Funkmeldung: Eines der beiden Schlauchboote hat einen Motorschaden und wird vom anderen geschleppt, dessen Treibstoff dadurch langsam zur Neige geht! Distanz zum Mutterschiff: 18 Meilen. Das löst eine Notfallsituation aus: Wir wassern zwei weitere Schlauchboote, bestücken sie mit Proviant, Trinkwasserreserven sowie vollen Reservetanks. Vier weitere Crewmitglieder brechen auf, um unseren KollegInnen zu helfen. Die Esperanza ist soweit in ihre Richtung gefahren wie möglich. Die Wassertiefe beträgt hier nur noch 6.5m, weiter ist zu gefährlich bei einem Tiefgang von 5m. Während wir den Fortschritt der Rettungsaktion am Radar verfolgen, erzählt mir Ronaldo Filho, der Chef der Wissenschaftler, von seiner wunderbaren Rettung. Bei einem Tauchgang in der Karibik wurde er von der Strömung mit zwei Kameraden acht Meilen vom Begleitschiff abgetrieben. Beim Auftauchen waren sie allein auf hoher See. Um die Rettungskräfte loszuschicken, waren viele Telefonate und gute Beziehungen auf höchster Ebene nötig. Dass sie vom Rettungsflugzeug aus tatsächlich lokalisiert wurden, ist ein Wunder, drei Männer in schwarzen Neoprenanzügen auf hoher See sind praktisch unsichtbar. Dank abgeworfenen Rauchbomben konnte das Begleitschiff die Taucher finden und an Bord nehmen. Sie waren dehydriert, halluzinierten und verbrachten die Nacht im Spital, erholten sich aber komplett. Dann bestätigt mir Ronaldo die schwierige Arbeit der Umweltschützer in Brasilien. Auch ihm würden regelmässig hohe Geldsummen angeboten, damit er seine Forschungsarbeiten stoppe. Morddrohungen an ihn und seine Angehörigen sind keine Seltenheit. Er denkt, dass er aufgrund seines universitären Hintergrunds mit Beziehungen zur Regierung bisher geschont wurde. In Brasilien würden Umweltschützer aber zu Hunderten ermordet.
Unsere vier Schlauchboote kommen wegen der Strömung nur eine Meile pro Stunde voran und erreichen die Esperanza um Mitternacht. Wir machen Witze über den «Goldzahn». Nahtlos trete ich meine Wache an.


Mittwoch 11.4.18
Auf der Wache diskutieren wir unsere Probleme mit den stark schwankenden Strömungen. Ideal wären die Kombination eines Schiffs mit dynamischem Positionierungs-System (DPS) mit aktiver Kompensation der Belastung auf dem Tauchroboterkabel (active heave compensation). Solche Spezialschiffe können ihre Position computergesteuert genau halten dank so genannten Propellergondeln. Die aktive Kompensation der Belastung auf dem Kabel berücksichtigt den Einfluss der Wellen auf das Kabel. Wird das Schiff von einer Welle angehoben, wird das Kabel akut belastet, die Kabelrolle gibt nach und umgekehrt, sodass die Belastung ziemlich konstant bleibt. Doch sowas kostet viel Geld.
Unsere Schlauchboote mussten heute nochmals ausrücken. Die Zahnpatientin fuhr gestern mit an Land, kam aber nicht rechtzeitig zur Rückfahrt zurück. Sie wird heute abgeholt. Aus Sicherheitsgründen fahren immer zwei Schlauchboote zusammen. Ansonsten sind wir bereit für weitere Taten.


Dienstag 10.4.18
Unsere Schlauchboot-Teams bringen frühmorgens drei Journalisten an Land und nehmen einen weiteren mit zurück auf die Esperanza, ebenso wie nachträglich bestelltes Forschungsmaterial. Das nimmt den Grossteil des Arbeitstages in Anspruch. Ich kann heute erstmals voll beim Bergen der Boote mitmachen, was Spass macht. Das Roboterkabel wurde nach genauer Inspektion weniger beschädigt, als angenommen. Man hat sich darauf geeinigt, weitere Tauchgänge zu unternehmen, wenn die Strömung nicht mehr als zwei Knoten beträgt. Fabio, der gertenschlanke und braungebrannte Filmer (gut zu erkennen an seiner blauen Wasserflasche am Gürtel und der Videokamera), konnte aus dem Filmmaterial einige scharfe Fotos herauskristallisieren. Die Forscher sind begeistert. Der 32-Jährige hat in Brasilien Journalistik studiert und in Paris einen Bachelor of Arts in Film gemacht und einen Master in Dokumentarfilm. Neben Greenpeace arbeitet er unter anderem für das National Geographic, für Médecins sans frontières, die Unesco und die New York Times. Seine Filme wurden mehrfach preisgekrönt. Regie, Schnitt und Vertonung macht er selber. Er spricht Portugiesisch, fliessend französisch und englisch. Dieser bescheidene und unkomplizierte junge Mann und sein grosses Engagement für die Umwelt und für sozial benachteiligte Menschen beeindrucken mich enorm.


Montag 9.4.18
Nachts lesen wir einen Untersuchungsbericht zum Totalverlust eines grossen Containerschiffs 2015 vor Puerto Rico. Aufgrund der aufgezeichneten Gespräche der «Black Box» hatte der Kapitän nicht gemerkt, dass er zwölf Stunden alte Wetterdaten als Grundlage für seinen Kursentscheid zu Rate zog. Er steuerte sein Schiff direkt ins Auge des Wirbelsturms. Wirbelstürme entstehen erst bei Wassertemperaturen über 27 C°. Die Klimaerhitzung führt daher zu häufigeren und schwereren Wirbelstürmen. Der heutige Einsatz des Tauchroboters endet unerfreulich rasch. Die Strömung ist so stark, dass sie das mit Technik vollgepfropfte tonnenschwere Ungetüm sogleich Richtung Heck transportiert, wo das Kabel vom Propeller erfasst wird. Der Roboter schlägt brutal gegen den Rumpf. Das gut daumendicke Kabel ist beschädigt. Soweit erkennbar sind die fiberoptischen, elektronischen und mechanischen Kabel im Kabelinneren jedoch intakt geblieben. Wie immer in solchen Fällen kommt die Information tröpfchenweise, die Stimmung ist bedrückt. Um 17 Uhr dann eine Krisensitzung vor versammelter Crew: Die bisher gewonnenen Bilder sind von mässiger Qualität, sie zeigen das Riff mit gut erkennbaren Schwämmen und einigen Fischen. Der Untergrund ist kalkhart, es handelt sich tatsächlich um ein Riff. Das Resultat der Wasserproben muss noch abgewartet werden. Die Strömung ist extrem stark und verunmöglicht weitere Untersuchungen mit dem Tauchroboter.

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