Bald vier Jahre sind es her, dass sich in der tunesischen Kleinstadt Sidi Bouzid der Gemüsehändler Mohamed Bouazizi mit Benzin übergoss. Das Streichholz, mit dem er sich am 17. Dezember 2010 anzündete, löste einen Flächenbrand aus, der die gesamte arabische Welt ergriff: Im Januar 2011 floh Tunesiens Diktator Zine el-Abidine Ben Ali, der das Land 23 Jahre regiert hatte, vor einem Volksaufstand ins Exil. Im Februar zwangen Massendemonstrationen in Ägypten Husni Mubarak zum Rücktritt. Er war 29 Jahre lang Präsident gewesen. Noch im selben Monat brachen auch in Libyen Proteste aus und im Oktober wurde Muammar Gaddafi nach 42 Jahren unumschränkter Herrschaft von Rebellen getötet. Im März 2011 malten Teenager in Syrien regierungsfeindliche Parolen an Hausmauern. Sie wurden gefoltert. Schon nach wenigen Monaten befand sich das Land in einem Bürgerkrieg, der bis heute anhält.

Nach der Euphorie des Arabischen Frühlings kam die Ernüchterung, auf die riesigen Hoffnungen folgten abgrundtiefe Enttäuschungen. Was hat der Aufstand gebracht? In Syrien hat der Krieg fast 200 000 Tote gefordert, über drei Millionen sind ins Ausland geflüchtet, weitere sechseinhalb Millionen sind auf der Flucht im eigenen Land. In Libyen bekriegen sich die Milizen, es gibt zwei Parlamente und zwei Regierungen. In Ägypten haben die Militärs wieder offen die Macht übernommen. Nur — Tunesien lässt hoffen. Dort wird nicht geschossen, sondern gewählt.

Der Irrtum des Westens

Die Bilanz ist trist. Statt Ordnung herrscht weithin Chaos. Und manch einer sehnt sich nach den alten Zeiten zurück, als noch Stabilität herrschte; eine Stabilität, wie sie auch die westlichen Politiker so sehr schätzten. Noch drei Tage vor der Flucht Ben Alis hatte Frankreich dem tunesischen Diktator, unter dem das Land zu einem mafiösen Polizeistaat verkommen war, Hilfe zur «Aufrechterhaltung der Ordnung» angeboten. Die USA unterstützten Mubarak mit jährlich 1,3 Milliarden Dollar Militärhilfe und 700 Millionen Dollar Wirtschaftshilfe und rückten erst von ihm ab, als sich sein Sturz abzeichnete. Gaddafis Gewaltregime war von zahlreichen europäischen Konzernen hochgerüstet worden.

Der Westen hatte auf Stabilität gesetzt und zu spät gemerkt, dass gerade die Diktatur den Keim der Instabilität in sich trägt. Das Chaos ist eine Folge der verordneten Ordnung. Es den Rebellen anzulasten, ist so, als ob man die französischen Revolutionäre von 1789 für die Terrorherrschaft Robespierres von 1794 verantwortlichen machen wollte. Was sich in der arabischen Welt abspielt, ist ein epochaler Umbruch, dessen Ende noch nicht absehbar ist. Diese Umwälzung von historischem Ausmass ist in ihrer Bedeutung vergleichbar mit dem arabischen Erwachen nach dem Zusammenbruch des Osmanischen Reiches am Ende des Ersten Weltkriegs und mit der panarabischen Emanzipationsbewegung nach dem Zweiten Weltkrieg, einem antikolonialen Aufbruch, der in eine Herrschaft von Autokraten mündete, die das Entstehen einer Zivilgesellschaft nach Kräften behinderten.

In Tunesien, wo der arabische Frühling seinen Anfang nahm, wurde 2014 die demokratischste Verfassung des gesamten arabischen Raums verabschiedet. Im Oktober fanden die ersten freien Parlamentswahlen in der Geschichte des Landes statt. Die Islamisten, die das Land über zwei Jahre regiert hatten, wurden abgestraft. Klarer Sieger war Nidaa Tounes, eine laizistische Partei, die ein breites Spektrum von gemässigten Linken bis konservativen Strömungen vereinigt. Ende November wird ein Präsident gewählt. Dass in Tunesien — bei allen Unwägbarkeiten — der Transformationsprozess zu glücken scheint, hat verschiedene Gründe. Das Land ist geostrategisch — anders als etwa Ägypten — von geringer Bedeutung. Es hat — anders als Algerien und Libyen — keine relevanten Reserven an Erdgas oder Erdöl. Seine Armee hat — anders als die ägyptische — keine Pfründen zu verteidigen und deshalb auch keine politischen Ambitionen. Und vorallem hat Tunesien eine entwickelte Zivilgesellschaft.

Schon unter der Diktatur Ben Alis gab es eine organisierte zivilgesellschaftliche Opposition. Getragen wurde sie vor allem von der Liga für Menschenrechte, von der Vereinigung Demokratischer Frauen und zuletzt auch von der Anwaltskammer, der Standesvertretung der tunesischen Rechtsanwälte. Ihre Protagonisten wurden über Jahrzehnte immer wieder verfolgt, schikaniert, verprügelt, inhaftiert. Nach dem Sturz der Diktatur gewannen die Islamisten, die am meisten unter der Diktatur gelitten hatten, im Oktober 2011 die Wahlen zur Verfassunggebenden Versammlung. Sie hatten schon bald ihre eigenen Milizen, schüchterten die Opposition ein und versuchten zunächst auch, die Scharia, die islamische Gesetzgebung, in der neuen Verfassung zu verankern.

Beschlagnahmte Staaten

Dass der Durchmarsch der Islamisten gestoppt wurde, ist vor allem den Gewerkschaften, den Frauen und der Zivilgesellschaft zu verdanken. Nach der Ermordung zweier populärer Linkspolitiker mobilisierten zahlreiche zivilgesellschaftliche Organisationen gegen die regierende islamistische Ennahda, die sich von den gewaltbereiten Salafisten allenfalls halbherzig abgrenzte und bei der Besetzung von öffentlichen Ämtern mehr auf die Parteizugehörigkeit als auf die Fachkompetenz schaute. Ennahda stellte zudem die bereits 1956 durchgesetzte weitgehende rechtliche Gleichstellung von Frau und Mann infrage. Es drohte eine schleichende Islamisierung der staatlichen Institutionen. Die Massenproteste der Zivilgesellschaft haben die Errungenschaften des arabischen Frühlings jedoch vor dem Zugriff der Islamisten gerettet.

Nach dem Sturz der Diktatur sind überall im Land Bürgerinitiativen entstanden, die nun zum Teil auch der neuen laizistischen Regierung Ärger bereiten. Sie wehren sich gegen das geplante Fracking (Gewinn von Gas aus Schiefergestein unter Einsatz von riesigen Wassermengen), das zu einer Austrocknung der Böden führen könnte mit bösen wirtschaftlichen Folgen für die Landwirtschaft. Sie kämpfen für den Erhalt von Oasen oder für eine bessere Wasserversorgung.

Auch in Ägypten versuchten die Islamisten nach ihrem Wahlsieg, den Staat quasi zu beschlagnahmen. Ausgebremst wurden sie jedoch nicht von einer mobilisierten Zivilgesellschaft, sondern von Soldaten. Nun ist die Armee wieder an der Macht und die Muslimbrüder sind wieder im Gefängnis oder im Untergrund. Die NGOs operieren wieder in einer Grauzone — wie früher. Und trotzdem ist etwas anders. Hunderttausende, Millionen haben die Erfahrung gemacht, dass man einen Diktator stürzen kann. Man kann ihnen diese Erfahrung nicht mehr nehmen, und das wissen auch die heutigen Machthaber, gegen deren Repression sich schon wieder Protest erhebt.

Unterdrückte Zivilgesellschaften

Viel schwieriger sieht die Lage in Libyen aus — auch weil Gaddafi weder oppositionelle Parteien noch Gewerkschaften, noch zivilgesellschaftliche Organisationen toleriert hatte. Zudem hatte er den Staat selbst weitgehend abgebaut, zahlreiche Ministerien einfach aufgelöst und über «Volkskomitees» und den «Volkskongress» eine «Massendemokratie» eingeführt, in der die Masse nichts und der Revolutionsführer alles zu sagen hatte. In Libyen hat man es nicht mit einem kollabierenden Staat zu tun, sondern mit einem Staat, der quasi aus dem Nichts erst aufgebaut werden muss — und dies unter dem Feuer sich bekriegender Milizen. Trotz dieser schwierigen Ausgangsbedingungen gibt es auch in Libyen zivilgesellschaftliches Engagement, Menschen, die auf die Strasse gehen und — manchmal unter Lebensgefahr — öffentlich das Ende der Macht der Milizen einfordern.

In Syrien ist die Lage völlig konfus. Kurdische Peschmerga kämpfen gegen Dschihadisten, deren Stellungen von den Amerikanern bombardiert werden. Laizistische Milizen, verbündet mit moderaten islamistischen Kampfgruppen, führen einen Zweifrontenkrieg — gegen die Dschihadisten und gegen die syrische Armee, die von der libanesischen Hizbollah und iranischen Revolutionsgardisten gestützt wird. Noch immer gibt es friedliche Demonstrationen, Bürgerinitiativen, die das Überleben sichern. Aber im grossen Kampfgetümmel ist die Stimme der Zivilgesellschaft, aus der der erste Widerstand gegen die Dschihadisten gekommen war, längst verstummt. Die Dynamik und ein Ende des Krieges sind nicht abzusehen. Irgendwann aber werden wohl Millionen Flüchtlinge in zerbombte Städte und zerstörte Dörfer zurückkehren. Sie werden die Ruinen beseitigen. Zurückbleiben wird eine tief traumatisierte Gesellschaft, die das Leben neu organisieren muss.

Hätte eine militärische Intervention vor zwei Jahren die Tragödie in Syrien verhindern können? Vielleicht. Hat erst der vom Westen militärisch erzwungene Regimewechsel in Libyen zum heutigen Chaos geführt? Wohl nicht. Wäre der arabische Raum noch heute stabil, wenn Mohammed Bouazizi sich nicht angezündet hätte? Ganz bestimmt nicht. Denn die Epoche erstarrter autokratischer Regimes, die ihren Bürgern ein Leben in Würde und Freiheit vorenthielten, neigt sich dem Ende zu, zumindest in einem grossen Teil der arabischen Welt. Im Rückblick werden der arabische Frühling, der Aufstand der Massen, die Machtübernahme der Muslime, der Krieg der Milizen und das Kalifat dereinst wohl als verschiedene Momente und Etappen eines grossen historischen Umbruchs erscheinen, der mit Hoffnung und Enttäuschung, Euphorie und Leiden und mit massenhaftem Tod einherging.

Die Lage in Tunesien bleibt weiterhin stabil und inzwischen wurde ein neuer Präsident gewählt – Béji Caïd Essebsi. Im Januar diesen Jahres ernannte Essebsi Habib Essid zum Premierminister. Dieser hat im Februar eine neue Regierungskoalition vorgeschlagen, welche noch auf Zustimmung vom Parlament wartet. Die Koalition setzt sich aus weltlichen Politikern sowie gemässigten Islamisten zusammen. Abgesehen von der weltlichen Allianz Nidaa Tounes, der liberalen Freien Patriotischen Union und der liberalen Partei Afek Tounes, ist auch die kontroverse Ennadah vertreten.