Erneuerbare Energien boomen, während private Anleger Atomkraft links liegen lassen. Der amerikanische Energieexperte Amory B. Lovins erklärt, warum das so ist, wieso Energieeffizienz glücklich macht und warum neue AKWs dem Klimaschutz mehr schaden als nützen.


Amory B. Lovins, 59, studierte Physik in Harvard und Oxford. Er gehört zu den einflussreichsten Umweltexperten der Gegenwart.

© Greenpeace

Amory Lovins: Sie setzen sich für weniger Energiekonsum ein …

… nein, für höhere Energieeffizienz! Das heisst, für eine Welt ohne sinnlose Verschwendung.

Stimmt es wirklich, dass in Ihrem Haus in den Rocky Mountains auf 2200 Meter Bananen wachsen?

Ja, wir konnten schon 28 Bananenernten einfahren. Mein Haus hat eine hervorragende Wärmedämmung mit Superfenstern, die aus drei Glasschichten bestehen, und ein ausgeklügeltes Belüftungssystem. Das alles zahlt sich übrigens aus: Meine monatliche Stromrechnung für eine Nutz- und Wohnfläche von 370 Quadratmetern beträgt fünf Franken.

Energie sparen heisst für viele Leute verzichten.

Das Gegenteil ist richtig. Effiziente Technologie erhöht die Lebensqualität. In einem effizienten Haus haben Sie zum Beispiel weniger Lärm, die Temperatur ist ausgeglichener, die Luftqualität besser. Kurz: In solchen Gebäuden sind Menschen glücklicher, gesünder und viel produktiver.

Wenn Energieeffizienz nur Vorteile bringt, warum ist sie dann nicht mehr verbreitet?

Die Entwicklung geht in diese Richtung. Aber es gibt immer noch Hindernisse. Warum soll zum Beispiel ein Vermieter sein Haus effizienter machen, wenn der Mieter die Stromrechnung zahlt? Warum sollten Sie für ein Haus in Effizienz investieren, das Ihnen nicht gehört? Es muss ein fairer Weg gefunden werden, Kosten und Nutzen zu teilen.

Wer muss dafür sorgen, dass unser Umgang mit Energie effizienter wird?

Wir alle. Was nicht heissen darf, dass es am Ende niemand tut! Natürlich muss der Staat steuern, indem er die richtigen Regeln aufstellt. Jedes Hindernis für mehr Energieeffizienz kann in eine Geschäftsgelegenheit, jeder Stolperstein in ein Sprungbrett verwandelt werden. Um diese Alchimie müssen sich Bern, Brüssel oder Washington kümmern.

Die Schweizer Regierung fördert zwar Effizienz und erneuerbare Energien, glaubt aber zugleich, wir bräuchten ein neues Atomkraftwerk, um die Versorgungssicherheit zu gewährleisten.

Die sollten sich den globalen Marktplatz einmal genauer anschauen. Atomkraft hat auf dem Markt versagt, weil sie einfach zu teuer und mit Risiko behaftet ist. Die grossen Gewinner sind Energieeffizienz, auch «Negawatt» genannt, und Mikropower, also auf erneuerbaren Energien oder Kraftwärmekopplung basierende Kleinstkraftwerke. Diese werden schnell billiger. Im vergangenen Jahr haben allein China oder die USA mehr Windkapazität ausgebaut, als die ganze Welt Atomstromkapazität ausgebaut hat. In dezentrale erneuerbare Energiequellen wurden weltweit 71 Milliarden Dollar investiert, während die Atomenergie leer ausging. Private Anleger zeigen ihr schlicht die kalte Schulter.

Warum sind neue AKWs so teuer, dass sie ohne staatliche Subventionen keine Chance haben?

Unter anderem wegen der stark gestiegenen Baukosten. Nur wenige Konzerne verfügen heute über das nötige Know-how für Konstruktion, Bau, Betrieb und Überwachung, weil über einen langen Zeitraum hinweg relativ wenige Reaktoren gebaut wurden.

Das Klimaschutzargument der Atomlobby verunsichert auch Schweizer und Schweizerinnen, die gerne auf ein neues AKW verzichten würden.

Mit Negawatt und Mikropower lässt sich mit dem gleichen Geld bis zu elf Mal mehr CO2 einsparen als mit neuer Atomkraft. Und das erst noch 20 bis 40 Mal schneller. Wir brauchen schnelle und billige Lösungen, um unsere künftige Energieversorgung zu gewährleisten und gleichzeitig ernsthaften Klimaschutz zu betreiben. Atomkraft ist da absolut nicht konkurrenzfähig.

Was macht dezentrale Kleinstkraftwerke so attraktiv und wirksam?

Breit zugängliche Angebote, die verkauft werden, wie Handys oder Computer, können gesamthaft mehr – und das erst noch schneller – bewirken als riesige zentrale Kraftwerkanlagen, die gebaut werden wie mittelalterliche Kathedralen.

Das Vertrauen, dass sich erneuerbare Energien bei uns schnell genug durchsetzen können, um einen AKW-Neubau überflüssig zu machen, ist in der politischen Schweiz noch nicht sehr verbreitet.

Das verstehe ich nicht! Die Schweiz hat gute Voraussetzungen für die meisten «Erneuerbaren». Es gibt wundervolle Ingenieure, alle technischen Kompetenzen sind vorhanden. Es existiert ein spezielles Milieu von kleinen und mittleren Unternehmen, die sehr anpassungsfähig sind. Meist sind es Grosskonzerne und demokratische Regierungen, die als Letzte aufwachen und den Braten riechen.

Wie zuverlässig kann in einem Land wie der Schweiz die Versorgung durch erneuerbare Ener-gien überhaupt sein?

Erstens ist Atomstrom nicht so zuverlässig, wie uns die Industrie weismachen will. Wenn AKWs aus Sicherheits-, Wartungs- und anderen Gründen ausfallen, fehlt ein riesiger Leistungsbrocken, und das meist für längere Zeit. Um damit umzugehen, muss dauernd Überkapazität produziert werden. Zweitens scheint die Sonne zwar nicht ständig auf ein bestimmtes Solarpanel und steht eine bestimmte Windturbine nicht ständig in der steifen Brise. Aber dank Wettervorhersage ist absehbar, wann was funktioniert. Verschiedene Witterungen sind für unterschiedliche erneuerbare Energiequellen günstig. Wenn man diese räumlich und im Typ diversifiziert, werden sie gemeinsam zuverlässig. Das lässt sich in der Schweiz vortrefflich umsetzen.

Amory B. Lovins, 59, studierte Physik in Harvard und Oxford. Er gehört zu den einflussreichsten Umweltexperten der Gegenwart und bekam für sein Engagement in Sachen Energieeffizienz 1983 den Alternativen Nobelpreis. Lovins ist Autor von 29 Fachbüchern, leitet die Denkfabrik «Rocky Mountain Institute» in Colorado und berät seit 30 Jahren weltweit Firmen und Regierungen.

Text: Sibylle Zollinger ist Kommunikationsverantwortliche des Bereichs Klima & Energie bei Greenpeace Schweiz