Nichts weniger als eine grosse Transformation steht uns bevor. Denn der bereits beschlossene Ausstieg aus dem fossilen Energiezeitalter wird unsere Gesellschaftsform und unsere ­Lebensweise grundlegend umkrempeln. Der Blick zurück in die Geschichte hilft, einige Irrtümer zu ent­larven und so die Chance.

«Trittst im Morgenrot daher, Seh ich dich im Strahlenmeer, (…) Wenn der Alpenfirn sich rötet, betet, freie Schweizer, betet!» Die National­hymne fordert auf zu einer Andacht vor der Natur, ein Loblied auf den Mythos der Alpen. Der Allmächtige rette das hehre Vaterland – und möge wohl den Sportlerinnen und Sportlern im nächsten Wettkampf beistehen.

Da wir aber der Natur in den letzten Jahrzehnten arg zugesetzt haben, geraten selbst die mächtigsten Mythen ins Rutschen: Mit über 200 Stundenkilometern donnerten am 23. August 2017 über drei Millionen Kubikmeter Gestein ins Bergell hinunter und lösten eine riesige Gerölllawine aus, die tragischerweise acht Wanderer und mehrere Häuser verschüttete.

Die Klimaveränderung rüttelt an den Alpen

Dass der Piz Cengalo im Bergell nun seine Flanke verloren hat, ist kein Zufall. Ebenso wenig wie der Rückgang des grossen Aletschgletschers im Wallis, der in einigen Jahrzehnten nur noch ein Gerippe aus Geröll im Gletschertrog zurücklassen wird. Noch ist er nicht viel kürzer, aber schon viel dünner. Der imposante Blick über den noch immer mehr als 20 Kilometer langen Gletscher wähnt uns in falscher Sicherheit. Wer nähertritt und die Wanderung von der Riederfurka zum Märjelensee unter die Füsse nimmt, begreift, was hier passiert. Der Gletscher magert ab, weil er vom Jungfraumassiv oben nicht mehr genügend genährt wird.

Durch diesen Gewichtsverlust des Aletschgletschers fehlt dem Gratzug bei der Moosfluh nun der Gegendruck. Der Hang ist ins Rutschen geraten. 160 Millionen Kubikmeter Gestein bewegen sich bis zu 80 Zentimeter pro Tag in Richtung Talgrund. Über sechs Kilometer Wanderwege mussten bereits gesperrt werden.

Die Beispiele zeigen, dass die Alpen und damit auch die Schweiz direkt betroffen sind vom Klimawandel. Die Menschen in Bondo mussten von einem Tag auf den anderen ihre Häuser verlassen. Wenn der Permafrost auftaut und die Hochgebirgslandschaft weiter in Bewegung gerät, stellt dies ganze Wohngebiete in Frage und es werden teure Verbauungen nötig.

Diese Ereignisse sind Symptome des Klimawandels, der seinerseits im Wesentlichen eine direkte Auswirkung der Abgase aus fossilen Brennstoffen ist. Der steigende Energieverbrauch und der gedankenlose Konsum der Bodenschätze stehen aber in krassem Gegensatz zur Tatsache, dass in historischer Per­spektive das fossile Zeitalter eine Ausnahme­situation von äusserst kurzer Dauer darstellt.

Aletschgletscher in der Schweiz / © Gesellschaft für ökologische Forschung

Das fossile Zeitalter hat den Zenit überschritten

Vereinfacht gesagt haben die Menschen bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts in einer solaren Gesellschaft gelebt, bei der etwa gleich viele Ressourcen verbraucht wurden, wie dank der Sonneneinstrahlung wieder nachwuchsen. Der Kohleverbrauch während der Industrialisierung war bis dahin mengenmässig vernachlässigbar. Das exponentielle Wachstum des Erdölverbrauchs nach 1950 dagegen ist beispiellos.

Erst dieser statistische Knick um 1950 beim Verbrauch fossiler Rohstoffe und damit auch bei der plötzlichen Zunahme der CO₂-Belastung in der Atmosphäre stellt einen einmaligen Eingriff der Menschheit in den globalen Energie­haushalt dar. Dass dieser statistische Knick zusammenfällt mit der erdgeschichtlich ebenfalls einzigartig steigenden Fieberkurve der Wetterdaten, gilt als treffendster Beweis für die Ursache der Klimaveränderung.

Der Zenit ist erreicht. Die zweite Hälfte des fossilen Zeitalters wird wohl noch kürzer werden als die nur rund sechzig Jahre bisher. Der Ausstieg wird schneller kommen, als uns lieb ist. An der Internationalen Klimakonferenz Ende 2015 in Paris wurde das Ende der CO₂-Emis­sionen bis zur nächsten Jahrhundertwende vorgegeben und so der Ausstieg aus der Öl-, Gas- und Kohle-Energiewirtschaft beschlossen. Zudem wird die Förderung immer aufwändiger und teurer, was die Energiewende noch beschleunigen wird. Es steht uns eine grosse Transformation bevor. Je schneller die fossile Energie weltweit ersetzt wird, umso tiefer werden die Kosten des Klimawandels ausfallen – das ist das Ziel des Pariser Übereinkommens. Je früher ein Land seine Wirtschaft und seine Infrastruktur umstellt, desto besser gelingt der damit verbundene soziale Wandel. Ein Blick zurück in die Geschichte legt diesen Schluss nahe.

Lehren aus der «Grossen Transformation»

Der Wirtschaftshistoriker Karl Polanyi (1886–1964) sprach ebenfalls von der «Grossen Transformation». Damit meinte er die Entstehung der modernen Nationalstaaten mit ihren Marktgesellschaften im 19. Jahrhundert. Er zeigte in seinem gleichnamigen Hauptwerk von 1944, dass die moderne Marktgesellschaft zuweilen ungeheure Dynamiken entfesselt, die sehr zerstörerisch sein können. Der Imperialismus im 19. Jahrhundert brachte beispielsweise die Knechtung der Kolonialvölker mit sich, während zu Hause die Arbeiterschaft trotz grosser Fortschritte in Technik und Wissenschaft verarmte. Polanyi zeigt, wie Gesellschaften rigoros scheitern und wie Staatswesen an selbstverschuldeten Problemen zerfallen können.

Diese Regel gilt bis heute. Die lenkende Hand des Marktes ist eben nicht nur unsichtbar, sie ist auch blind – mitunter sogar blindwütig. Der Ölpreisschock der 1970er Jahre löste eine globale Rezession aus und stürzte einzelne Länder in eine tiefe Armuts- und Schuldenkrise. Höhepunkt vieler Modernisierungskrisen sind Kriege und Konflikte, die unermessliche Zerstörung über Mensch und Umwelt bringen: von den Senfgaseinsätzen im Ersten über die Atombomben im Zweiten und die brennenden Ölfelder im Golfkrieg bis hin zu den grossflä­chigen Pestizid-Sprühflügen im Krieg gegen die Drogen in Lateinamerika.

Positive Impulse dank Politik und Diplomatie

Staatskrisen und Ökokatastrophen als Folge der Transformation dauerten gemäss Polanyi so lange an, bis ein gesellschaftliches Korrektiv gefunden werde. Erst ein neuer Gesellschaftsvertrag gab der Modernisierung wieder ein menschenwürdiges Antlitz. Den europäischen und nordamerikanischen Gesellschaften gelang es, sich vom Joch des Feuda­lismus zu befreien, indem sie die allgemeinen Menschenrechte anerkannten. Die Armut des Industrieproletariats wurde erst dank neuen Sozialgesetzen und dem modernen Arbeitsrecht überwunden.

Es gibt weitere Beispiele, bei denen es der Politik gelang, eine globale Fehlentwicklung abzuwenden: Nur wenige Jahre nach der Entdeckung des Ozonlochs läutete das Montreal-Protokoll von 1987 das Ende des Ozonkillers FCKW ein. Inzwischen bildet sich dank diesem Verbot das Ozonloch zurück.

Doch wir sind schlecht beraten, wenn wir nur auf die Politik, auf neue Gesetze und internationale Verträge warten würden. Die Transformation wird vor allem auch dank vielen dezentralen Initiativen unzähliger Menschen stattfinden. So ging der Erfolg der FCKW-Reduktion auf eine Kampagne von Greenpeace zurück. Nur dank einer Zusammenarbeit mit erfahrenen Ingenieuren (Greenfreeze) und gegen den geballten Widerstand der Industrie­verbände setzte sich der FCKW-freie Kühlschrank rasch durch.

Als das Treffen für das internationale Ozonabkommen in Wien begann (Montrealer Protokoll), blockierte Greenpeace in Australien das Hauptquartier von DuPont, um auf den anhaltenden Verkauf von ozonzerstörenden Chemikalien hinzuweisen / © Greenpeace

Positiver Wandel dank Zivilcourage

Der Wandel beginnt im Kopf – das ist mehr als nur ein geflügeltes Wort. Es steht dafür, dass Wandel oft mit einer neuen Geschichte beginnt, die eine gesellschaftliche Veränderung bewirkt. Eine solche symbolische Deutungshoheit zu etablieren, gelingt oft von unten, dezentral.

Die Hippies von 1968 haben die steife Doppelmoral der 60er Jahre herausgefordert. Im Zuge der Flower-Power-Bewegung sind dann auch die Haare der biedersten Fernsehansager länger geworden. Mit ihrem Slogan «Make love, not war» gaben die Blumenkinder eine Antwort auf den Vietnamkrieg und halfen, diesem bald ein Ende zu setzen. In jener Zeit erwachten ein neues Bewusstsein für die Umwelt und ein kritischer Geist, der dem Konformismus die Stirn bot und vielen Frauen die Emanzipation ermöglichte.

Die Verbote gegen Bürgerinitiativen in Russland, Indien oder Ungarn zeigen dagegen, dass repressive Systeme Blockaden gegen notwendige Veränderungen errichten. Im Gegensatz dazu sollte die Klimaproblematik auf die Menschenwürde und auf eine gezielte Anpassungspolitik ausgerichtet werden. Eine Herausforderung wird sein, mit Fantasie und gemeinsamen Initiativen vieler Aktivisten und Aktivistinnen auch die digitale Transformation im Sinn eines nachhaltigen und sozialverträglichen Wandels zu nutzen.

Umwelt und Friede – Dreh- und Angelpunkt der Transformation

Sorge tragen zu unserer Umwelt und Sorge tragen zu unserer Gesellschaft – das sind die zwei wichtigsten Ziele zur Bewältigung der nächsten grossen Transformation: Green + Peace. Das bedeutet mehr als Umweltpolitik und Wahldemokratie. Das erfordert auch gesellschaftliches Engagement, Empathie und die Bereitschaft vieler Pionierinnen und Pioniere, neue Wege zu beschreiten. Einige von ihnen werden in diesem Heft porträtiert.

Stefan Indermühle, Historiker und Politikwissenschaftler, arbeitet seit bald 20 Jahren in der Entwicklungs- und Friedenspolitik im In- und Ausland. Unter anderem war er für Public Eye (ehemals Erklärung von Bern) als Clean Clothes Cam­paigner tätig. Heute arbeitet er in der schweizerischen Friedensförderungs- und Menschenrechtspolitik.