Am Ende des Jahrhunderts werden lediglich noch letzte Flecken des Aletschgletschers übrig bleiben – das prognostizieren uns Glaziologen mit Klimamodellen. Was bedeutet das für die Menschen vor Ort, die heute schon mit den Auswirkungen des Klimawandels und der Gletscherschmelze leben müssen? Eine Spurensuche auf und um den Giganten unter den Alpengletschern.

Von der Riederalp, hoch über dem Rhonetal, sind es nochmals knapp zehn Minuten mit der Gondelbahn bis auf die Moosfluh auf 2333 Meter. Wir steigen aus der Gondel, machen wenige Schritte Richtung Krete und plötzlich ist er da: der Aletschgletscher. Mit 82 km² der grösste Gletscher der Alpen, 22 Kilometer lang und seit 2001 UNESCO-Weltnaturerbe.

Von der Jungfrau auf über 4000 Meter fliesst er bis hinunter zum Aletschwald auf 1650 Meter, wo sein Eis in einen reissenden Bach mündet. Lediglich einen Drittel des Gesamtgletschers kann man von hier aus sehen, der Rest wird vom Olmenhorn und Dreieckhorn verdeckt. Welch unfassbar gewaltige Eismasse, die sich da vor uns ausbreitet.

Wir gehen einige Schritte weiter hin zum Abhang Richtung Gletscherflanke. Schnell merken wir: Was unendlich und unverrückbar scheint, ist instabil und in Bewegung geraten. Gelbe Banderolen versperren den Zugang zu Wanderwegen, die einst zum Gletscher führten. Eine alte Trockensteinmauer liegt zerbrochen am Boden. In der üppigen Sommervegetation klaffen dunkle, bis zu 20 Meter breite Spalten, fast so, als hätte ein Riese mehrmals seinen Keil in den Berg geschlagen.

«Wahrscheinlich werde ich da nie mehr reingehen können», klagt Laudo Albrecht. «Und selbst wenn, wird das Gebiet ein anderes sein.» Albrecht ist in der Region aufgewachsen. Über den Gletscher ging er zum ersten Mal als kleiner Knopf mit seinen Eltern während eines Familienausflugs. Er studierte Biologie und wurde 1989 Leiter des Pro-Natura-Zentrums Aletsch auf der Riederalp.

Dass der Gletscher schmilzt, ist klar ersichtlich. (© Anne Gabriel-Jürgens)

Nur wenige waren öfter auf dem Gletscher als er. Im Sommer führt er mit seinen Mitarbeitenden Schulklassen und Interessierte auf den Gletscher – nicht nur, um ihnen dessen Schönheit zu erschliessen, sondern auch, um sein Leiden zu vermitteln. «Wir führten Hunderte von Gruppen diesen Pfad hinunter zum Gletscher.» Als er einmal alleine über die Abschrankungen stieg, um zu schauen, was passiert war, habe es ihn emotional erwischt, erzählt Albrecht. «Dass der Gletscher schmilzt, wissen wir schon lange. Doch nun geht alles plötzlich viel schneller.» 

Fehlender Gletscher, wankende Berge

Im Herbst 2016 gerieten bei der Moosfluh 150 Millionen Kubikmeter Fels in Bewegung, eine Fläche von 250 Fussballfeldern. Teile der Bergflanke rutschten Richtung Gletscher ab. Unten bewegte sich der Hang 70 bis 80 Zentimeter pro Tag, auf der Moosfluh-Krete bis zu 20 Zentimeter. Zwischenzeitlich herrschte sogar die Befürchtung, dass der gesamte Hang abrutschen könnte. Weil sich der Aletschgletscher in noch nie dagewesenem Tempo zurückzieht, werden die angrenzenden Hänge nicht mehr vom Eis gestützt, sie werden instabil und rutschen ab. Bis heute gibt es punktuelle Felsabbrüche.

Wir sind an diesem Samstagmorgen mit Albrecht auf die Moosfluh gefahren, um ihn auf den Gletscher zu begleiten. Er hat drei Ranger und zwei Praktikantinnen mitgebracht, die ihm helfen, Metall- und Holzstangen zu schleppen. Sie wollen die Ablationsstange auswechseln, mit welcher sich der Verlust an Eisdicke messen lässt. Dafür werden sie mit dem Metall zuerst ein Loch in die Eisdecke bohren und anschliessend die Holzstange darin versenken. Seit 1995 macht Pro Natura solche Messungen. Seit Beginn verdeutlichen sie: Der Gletscher wird dünner.

Über einen infolge des Hangrutsches neu angelegten Weg laufen wir von der Moosfluh hinunter zur Gletscherflanke. Plötzlich hält Albrecht bei einem dicht von Alpenrosen bewachsenen Wall an. «Hier sind wir beim Jahr 1860 angelangt – der letzte Höchststand», erklärt Albrecht. «Seither zieht sich der Aletschgletscher nur noch zurück.» Unsere Höhe: 2130 Meter.

30 Minuten später stehen wir an der Gletscherkante und messen erneut: 1911 Meter. In etwas mehr als 150 Jahren hat der Aletschgletscher an dieser Stelle 219 Meter Eisdicke verloren. Alleine von 2001 bis 2011 zog sich der Gletscher um 500 Meter zurück. Und das vergangene Jahr gehörte zu den schmelzintensivsten seit Messbeginn.

«Der Gletscher ist für mich über die letzten 30 Jahre eine Art Freund geworden», erzählt Albrecht. «Doch dieser Freund verabschiedet sich je länger, je mehr.» Am Gletscherfuss, wo dünne, milchige und blassblaue Bächlein am Eis zerren, suchen wir nach einer Stelle, um auf den Giganten aufzusteigen. Aus dem Wasser ragt ein drei Meter hoher, kupferroter Findling. Vor zwei Jahren sei der Stein noch komplett mit Eis bedeckt gewesen, erzählt Albrecht. Darunter gab es eine Eishöhle, die er den Besuchern gerne zeigte. Nun ist sie weg.

Beten für ein erneutes Gletscherwachstum

Das rapide Schwinden des Gletschers hat sogar die Kirche alarmiert. Der Präfekt des Bezirkes Goms, Herbert Volken, war 2009 beim Papst Benedikt XVI vorstellig, um das jahrhundertealte Gelübde für den Rückzug des Gletschers, der den Bewohnern lange Zeit als grosse Gefahr galt, umkehren zu dürfen. Der Papst hiess die Anpassung an den Klimawandel gut. 2012 wurde die Prozession erstmals mit der Bitte durchgeführt, dass der Gletscher wieder wachsen möge. Bislang jedoch ohne Erfolg, wie Messungen des nationalen Gletschermessnetzes GLAMOS zeigen. «Selbst wenn wir die Klimaerwärmung auf dem heutigen Stand stabilisieren könnten, würde sich der Aletschgletscher noch immer um weitere sechs Kilometer zurückziehen», erklärt der ETH- Glaziologe und GLAMOS-Leiter Matthias Huss.

2100 soll nicht mehr viel vom Aletschgletscher übrig sein. (© Anne Gabriel-Jürgens)

Er hat auch die Simulation mitentwickelt, die im Zeitraffer zeigt, dass bis 2100 wahrscheinlich nur noch letzte Flecken vom Aletschgletscher übrig bleiben. Für den Glaziologen gibt es nur einen Weg, um zumindest Reste der Gletscher weltweit zu bewahren: die Einhaltung der Vorgaben aus dem Pariser Klimavertrag. «Dadurch könnten 20 bis 30 Prozent der Gletscher gerettet werden. Fahren wir jedoch mit den CO2-Emissionen weiter wie bisher, blieben uns noch fünf Prozent des heutigen Eisvolumens, vor allem in Höhen über 4000 Metern.»

Gletscher sind nicht nur unendlich faszinierend, sie sind auch für den Wasserhaushalt der Schweiz entscheidend. Wie riesige Wasserspeicher in grosser Höhe halten sie das Wasser zurück und geben es dann ab, wenn es die Menschen im Tal brauchen – vor allem in trockenen Sommern. Das ist sowohl für die Landwirtschaft als auch zum Füllen der Stauseen für die Stromproduktion relevant.

Doch der Speicher gerät aus dem Gleichgewicht: Die Schneefallgrenze steigt und die Schneefallmengen nehmen ab. Dadurch fehlt dem Gletscher «Nahrung» zum Regenerieren. Zudem schmilzt der Schnee in der Höhe nun oft bereits im Frühling und kann seine Funktion als Schutzschicht für das Eis nicht mehr wahrnehmen.

Beim «grünen Spinner» und seinen Suonen

Wir fahren nach Ausserberg, einem 600-Seelen-Dorf an einem steilen Hang an der Lötschberg-Südrampe, 350 Meter über Visp. Ausserberg gehört zur Region Jungfrau-Aletsch. Die tieferen Lagen sind klimatisch einzigartig: Visp verzeichnet landesweit die meisten Hitzetage (> 30 °C) und gehört zu den trockensten Regionen der Schweiz – nirgends gibt es weniger Regentage. Hier lebt Orlando Schmid. Er hat zehn Kühe auf 38 Hektaren Land – «das sind eigentlich afrikanische Verhältnisse», witzelt er. Heute ist er der letzte Vollerwerbsbauer Ausserbergs. Schmid produziert seit jeher biologisch und nur so viel, wie sein eigenes Land hergibt. Schon früh war er der «grüne Spinner» im Dorf.

Wir sind zu Schmid gefahren, um mehr übers Gletscherwasser im Rhonetal zu erfahren. Denn seit Jahrhunderten leben die Menschen hier in fruchtbarer Koexistenz mit den zahlreichen Gletschern in der Umgebung. Die Suonen sind vielleicht das beste Symbol dafür. Junge Männer hauten über Jahrhunderte in mühseliger Arbeit kilometerlange Kanäle in den Fels, legten sie mit zugeschnittenen Holzstämmen an oder gruben sie in den Boden, um Wasser aus den Gletscherbächen umzuleiten. Nur so war es ihnen überhaupt möglich, ihre Felder in den trockenen Sommermonaten zu bestellen.

Schmid fährt uns im grünen Subaru vom Hof hinauf zur «Niwärch», zur höchsten von vier Suonen, welche die Felder rund um Ausserberg mit Wasser versorgen. In einem 30 Zentimeter tiefen Kanal fliesst ein mageres Bächlein; drum herum ein Hort der Biodiversität: wilde Minze, wilder Wermut, wilder Thymian, Schachbrettfalter und ein halbes Dutzend Schmetterlingsarten. Die Suone verbindet Schmids Feld mit dem Bach des nahe gelegenen Baltschiedertals, der vom Inneren und Äusseren Baltschiedergletscher gespiesen wird. Die «Niwärch» ist die Lebensader von Schmids Betrieb; sie säumt seine Felder an der Oberkante.

Ein sogenannter Wasserschieber für die Suonen. (© Anne Gabriel-Jürgens)

Zu klar definierten Zeiten darf er das Bächlein mit einem «Schieber», einem Holzbrett, so breit wie die Suone, an mehreren Stellen stauen, wodurch das Wasser die darunterliegenden Felder überschwemmt. Damit sich das Wasser regelmässig über die Felder verteilt, hat er zusätzlich Furchen in den Boden gezogen. «Wie ein Wassernomade gehe ich dann jeweils von Schieber zu Schieber, um einen Fleck nach dem anderen zu bewässern», erklärt er. Eine Landwirtschaft, so archaisch wie zu Gotthelfs Zeiten. Bisher hat seine Suone noch nie versagt, das Wasser fliesst, vom rapide schmelzenden Gletscher und den Niederschlägen gespiesen.

Trotzdem leidet Schmid am Wassermangel: Er nimmt uns mit auf eine gedankliche Reise in den Hitzesommer 2003: «Es war katastrophal. In Sitten wurden Temperaturen von 39 °C verzeichnet. In den höheren Lagen, die wir nicht bewässern und wo das Vieh im Sommer grast, war alles braun. Wir arbeiteten rund um die Uhr, damit die Kühe jeden Tag Wasser und etwas Futter hatten. Am Ende musste ich sie trotzdem ins Tal bringen, weil es hier oben nicht mehr ging.» Das Schlimmste sei aber nicht die Arbeit gewesen, sondern das zermürbende Gefühl der Ohnmacht. «Man kann weder Wasser produzieren noch das Klima bestimmen», resümiert Schmid. «Wir waren uns Trockenperioden gewohnt, aber das brachte uns an die Grenzen.»

Die Trockenperioden würden zunehmend länger, erzählt Schmid. Auch 2017 sei ein schlimmer Sommer gewesen. «Zwar nehmen hier im Dorf alle die Veränderungen wahr, doch sie tun sie als natürliche Schwankung ab.» Das Thema Klimawandel sei in Ausserberg nicht präsent. «Das sind halt schleichende Prozesse», begründet Schmid. «Doch schleichende Prozesse enden meist tödlich.» Wenn die Jungen in die Städte ziehen, niemand mehr das Gras schneide und die Wiesen verganden, dann komme mit der Hitze auch noch das Feuer.

Schmid hat seinen Hof und seine Tiere mittlerweile verkauft Eine junge Bäuerin, mit der Schmid das Heu von Beginn weg auf der gleichen Bühne hatte, will ihr Glück in Ausserberg versuchen. Er sei froh, dass seine Kinder nicht in seine Fussstapfen treten, sagt er: «Das Bauern in dieser Region wird immer schwieriger», ist er überzeugt. «Wegen der Trockenheit.»

Das Bundesamt für Umwelt (Bafu) rechnet in seinen Klimaszenarien für die Schweiz in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts mit einer Abnahme der Niederschlagsmengen im Sommer von 18 bis 28 Prozent (ohne globale Klimaschutzmassnahmen) oder 8 bis 10 Prozent (mit globalen Klimaschutzmassnahmen). Das ohnehin trockene Rhonetal wird besonders betroffen sein. Längerfristig werden auch die Schmelzwassermengen der Gletscher rückläufig sein; die Suonen könnten in Trockenperioden leerlaufen.

Schmelzende Touristenattraktion

In der Gemeinde Riederalp sind 82 Prozent der Wohnhäuser Zweitwohnungen und die Bergbahn ist der weitaus grösste Arbeitgeber. Nach einem tiefgreifenden sozioökonomischen Wandel ab den 60er-Jahren wurde aus den abgeschiedenen, selbstversorgenden Bauerndörfern eine globale Tourismusdestination. Der «Great Aletsch Glacier» ist mittlerweile von Boston bis Beijing ein klingender Name. Doch die Abhängigkeit vom Tourismus macht im Hinblick auf den fortschreitenden Klimawandel verletzlich. Denn die Aletschregion ohne Gletscher, das ist ein wenig wie Zermatt ohne Matterhorn. Voraussichtlich wüssten Tausende Chinesen nicht mehr, weshalb sie noch hierhin reisen sollten.

Sepp Bürcher war in den 70er-Jahren Skirennfahrer. Heute betreibt er zwei Sportgeschäfte auf der Riederalp und ist im Vorstand der Aletsch Arena, die den Gletscher touristisch vermarktet. «Früher waren die Gipfel in der Umgebung viel länger weiss», sagt er. «Und die Baumgrenze ist gestiegen: Wo wir früher noch Ski gefahren sind, stehen nun Bäume.» Bürcher verdient praktisch sein ganzes Geld im Winter – und die würden zunehmend härter: «Ostern wurde massiv schlechter, weil es oft nur noch wenig Schnee hat. Dann gehen die Leute halt ins Tessin. Doch um einen Skidress zu kompensieren, braucht es viele Sommershorts!» Die aktuellen Veränderungen machen ihm Angst, Lösungen fehlen. «Wir versuchen, die gemeinhin schwierige Situation im Tourismus irgendwie zu meistern. Darüber hinaus können wird derzeit nicht denken.»

Umdenken dank Sander?

Vor dem Alpmuseum Nagulschbalmu (= Walliserisch für: nicht nigelnagelneu), etwas erhöht am Hang über den Chalethotels der Riederalp, wird ein grosses Freilichttheater aufgebaut. Brachial schieben sich das Alugestänge der Tribüne und die farbigen Bänder zur Aufhängung der Lautsprecher vor die 400 Jahre alte, wettergegerbte Alphütte. Auf dem Vorplatz neben einem uralten Holzbrunnen, wo die Aufführung nun allabendlich geübt wird, treffen wir Roberta Brigger in historischer Bauerntracht. Seit einem Jahr ist die ehemalige Skilehrerin Leiterin des Alpmuseums und leidenschaftliche Schaukäserin. Wenn sie über ihre Tätigkeiten erzählt, glaubt man, sie habe nie etwas anderes gemacht.

Roberta Brigger im Alpmuseum. (© Anne Gabriel-Jürgens)

Auf den Gletscher angesprochen, erzählt Brigger von gemeinsamen Touren mit ihrem Lebenspartner Raymond. Im Winter könne man bei guten Bedingungen mit den Skiern vom Jungfraujoch auf 3454 Meter bis hinunter zum «Chatzulecher» am Ende der Gletscherzunge auf 2010 Meter fahren: «Man gleitet, schaut zurück, gleitet weiter, schaut nochmals zurück – und es ist, als sei man noch immer am selben Ort», schwärmt sie. Im Sommer geht sie oft mit zur Gämsejagd beim Olmenhorn. Doch in den vergangenen Jahren sei das immer gefährlicher geworden. «Wo früher Gletscher war, ist noch keine Vegetation nachgewachsen, die Steine sind lose und rutschen ab. Man muss unglaublich aufpassen, dass man nicht stürzt.»

Beim historischen Freilichtspiel «Der letzte Sander von Oberried» spielt Brigger Agatha, die Mutter der Hauptfigur Anna, die den Sander liebt und um diesen bangt, weil dieser die Suonen an den gefährlichsten Stellen vom Sand reinigen muss. Sand, den das Gletscherwasser mit sich führt. Nur dank dem tüchtigen Sander haben die Bauern jederzeit Wasser für ihr Vieh und Land. Die gesamte Handlung dreht sich um die zentrale Bedeutung des Wassers für das Leben auf der Riederalp. «Ich hoffe wirklich, dass unser Spiel zu einem Umdenken beiträgt», sagt Brigger.

Dann erzählt sie von einer Freundin aus dem Dorf, mittlerweile 90 Jahre alt, die das Kochwasser von Teigwaren oder Kartoffeln nach dem Abgiessen jeweils aufbewahre. Sie hat die Zeiten noch miterlebt, als Wasser rar war. Was würde wohl sie sagen zum 9-Loch-Golfplatz im Zentrum der Riederalp, der auch im trockenen Sommer mit viel Wasser grün gehalten wird? Die Freilichtgäste werden bald von der Tribüne auf den makellosen Turf hinunterschauen können, während der Sander für die Wasserverfügbarkeit der Bauern kämpft.

37 Zentimeter in vier Tagen

Laudo Albrecht hat eine passende Stelle gefunden, um auf den Gletscher zu steigen. Wir schnallen die «Gräppeni» an, die Gletscher-Steigeisen. Trotz wolkenlosem Himmel und 33 °C in Visp weht uns plötzlich ein eisiger Wind um die Ohren. Zuerst laufen wir über dunkles Geröll, als hätte ein Vulkan das Eis eingeäschert. Dazwischen leuchten blaue Eisspalten, die wie Bullaugen Blicke ins Innenleben des Gletschers freigeben.

Nachdem wir die dunkle Moräne hinter uns gelassen haben, schreiten wir aufs blanke Eis. Was aus der Ferne noch nach einer einheitlichen Fläche aussah, entpuppt sich nun als Poesie der Formen und Bewegungen: Hier gibt es Mulden, Solitäre, Verwehungen und sanfte Wölbungen. Neben uns frisst sich ein reissender Bach in eine tiefe Gletscherspalte; Albrechts langjähriger Freund zischt, plätschert, faucht und heult. Nichts ist statisch und stabil, alles ist in Bewegung und vergänglich.

Das Team steuert zielsicher auf einen dünnen Holzstab zu, der aus dem Eis ragt. Eine Markierung zeigt den Stand des Gletschers vor vier Tagen: 37 Zentimeter hat er seither verloren. «Wenn ich den Leuten bei Exkursionen jeweils den Eisverlust an der Ablationsstange zeige, ist die Betroffenheit gross», sagt Muriel Ehrbar, Rangerin für Pro Natura. «Die Erwachsenen kommen dann oft in eine Verteidigungshaltung. Einige sagen sogar: Bis 2100 bin ich sowieso tot.» Die Kinder seien da etwas kreativer. Nachdem sie einmal an der Ablationsstange die anthropogenen Ursachen für den Klimawandel erklärt hatte, hätte ein Mädchen zu ihr gesagt, sie wolle sowieso nie ein Auto und werde später einmal alle Wege auf ihrem Pferd zurücklegen. «Sie gehört zur Generation, die noch erleben wird, dass es hier keinen Gletscher mehr gibt.»

Samuel Schlaefli hat Journalismus, Soziologie und Kulturwissenschaften studiert. Heute arbeitet er als freischaffender Journalist und Redaktor für verschiedene Magazine und schreibt zu Nachhaltigkeit, Klimawandel und Auswirkungen der Globalisierung.

Anne Gabriel-Jürgens ist freiberufliche Fotografin und seit 2010 in der Fotografenagentur 13Photo in Zürich tätig. Neben Auftragsarbeiten realisiert sie immer wieder freie Projekte wie z. B. ihr aktuelles Buch «Greina», wo es um Grenzen und den Naturschutz geht.

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