In den 1990er-Jahren setzen Kunstschaffende im Grimsel­gebiet einer neuen Dimension im Kraftwerkbau eine neue Form des Protests entgegen: Sie schaffen ihre Werke direkt in der bedrohten Landschaft.

Ende der 1980er-Jahre plant die Kraftwerke Oberhasli AG (KWO), ihr Hydroimperium an der Grimsel mit einem gigantischen Pump­speicherwerk zu erweitern. Dieses hätte massivste Eingriffe in eine grossartige Alpengebirgslandschaft zur Folge. Ihre Schutzwürdigkeit ist belegt durch mehrere kantonale, nationale (BLN) und internationale Postulate (UNESCO-Welt­erbe). Alle massgebenden Schutzorganisationen und die Standortgemeinde versuchen, mit Einsprachen dem Monsterprojekt einen Riegel vorzuschieben. Überzeugt, dass Kunst mehr vermag, als nur Argumente zu bringen, schliessen sich Kunstschaffende zur Gruppe «l’art pour l’aar» (Kunst für die Aare) zusammen. Eine Sommerwoche lang schaffen jeweils bis zu zwei Dutzend KünstlerInnen gemeinsam am bedrohten Ursprung der Aare, um gegen das 4-Milliarden-Projekt zu protestieren. Ziel ist es, mit den Mitteln der Kunst die Schutzwürdigkeit dieser Landschaft ins Blickfeld zu rücken und auch andere Kreise anzusprechen als die ohnehin Überzeugten.

Protestkunst gegen Kraftwerk­gigantismus, Klimaerwärmung und Wasserhandel

Die Kunstwerke von «l’art pour l’aar» feiern nicht die Schönheit der Gletscher und der Berge; die Arbeiten sind eminent politisch und dienen vorab dem Widerstand: Sie sollen hinterfragen, zuspitzen, irritieren und provozieren. Als die Kraftwerke Oberhasli (KWO) 1995 ihr Grossprojekt zurückziehen, weitet «l’art pour l’aar», mittlerweile eine verschworene zehnköpfige Gruppe, die engagierten Kunstaktivitäten aus auf andere Landschaften und relevante Probleme im Alpenraum. Die Themen Klimaerwärmung, Gletscherschmelze, Übernutzung durch Verkehr und immer absurdere Sportarten, sogar der internationale Handel mit Wasser werden künstlerisch umgesetzt. Als Mittel dienen publikumswirksame Installationen und Aktionen vor Ort in der bedrohten Landschaft. Was motiviert eine zusammengewürfelte Gruppe von KünstlerInnen, die schiere Plackerei auf sich zu nehmen und im rauen Gebirgs­klima Protestkunst zu machen?

Sind es politische Überzeugung und Weltverbesserung für die einen, stellen sich andere der künstlerischen Heraus­forderung, gegen die überwältigende Umgebung zu bestehen, während für Dritte wohl die Lust am inspirierenden gemeinsamen Schaffen eine Hauptrolle spielt. Auch wenn interne Diskussionen nicht ausbleiben, wird nie am Sinn des Engagements gezweifelt. Die Auseinandersetzungen drehen sich eher um die Wahl eines zurzeit im Berggebiet relevanten Themas und seine künstlerische Umsetzung als um die moralische oder ethische Legitimität einer Protestarbeit. Auch an­gesichts von Anfeindungen, etwa wegen des Widerstands gegen die «saubere» Wasserkraft, verfolgt die Gruppe meist einhellig ihr Ziel, Konflikte zwischen Nutzungsansprüchen und ökologischen Anliegen aufzuzeigen.

In Schaukästen visualisiert die KWO ihr Seevergrösserungsprojekt. Mit identischen, aber roten «Hinguckern» füllt «l’art pour l’aar» deren Informationslücken: Auf Glasplatten gedruckt, stehen die einschlägigen Schutzartikel und ein Schutzaufruf direkt vor der betroffenen Landschaft. ©Adolf Urweider

Kunst ist nicht Journalismus, sondern subversives Mahnzeichen

Seit den frühen 1980er-Jahren setzen sich KünstlerInnen mit ihren Werken – sei es durch Intervention vor Ort oder indirektes Aufmerksam- und Sichtbarmachen – für den Erhalt der Umwelt ein. Künstlerischer Aktivismus erobert vor allem die Städte und nennt sich «Artivismus». Auch die Berglandschaft der Alpen wird zum Tummelfeld für Kunstprojekte. Hier zeichnen sich die Arbeiten der Gruppe «l’art pour l’aar» dadurch aus, dass sie erstmals direkt am Ort des Geschehens konkrete Missstände im Umgang mit der fragilen Natur des Gebirges anprangern.

Sustenpass 2010. Die globale Klimaer­wärmung lässt nicht nur Gletscher schmelzen, sie bewirkt auch drastische Veränderungen in der alpinen Pflanzenwelt. Die Arbeit «Glashaus» steht für die Zerbrechlichkeit der Natur. Auf einer flachen Kiesbank mit Pionierpflan-zen wird auf dem ­Vorfeld des schwindenden Steingletschers ein fragiles gläsernes Treib- haus aufgestellt. ©Adolf Urweider

Wo liegt, neben den üblichen Protestformen, der Sinn solch aufwändiger Aktionen und was können sie bestenfalls bewirken? Kunst bietet keine Lösungen und kann weder die Alpenlandschaft noch die Welt retten. Demos, Plakate und Pamphlete machen mehr Schlagzeilen. Kunst in der Berglandschaft hat eine symbolhafte Sprache: Sie kann subversiv sein, alarmierend, will Augen öffnen, Fragen stellen und Antworten fordern zum Umgang mit der Landschaft und den Ressourcen der Gebirgswelt. Sie darf sogar Kopfschütteln auslösen und im besten Fall zu Widerstand und politischem Aktivismus motivieren. Wenn sie kritische BetrachterInnen dazu anregt, sich auseinanderzusetzen mit der wünschbaren Nutzung und dem notwendigen Schutz der Gebirgswelt, hat Protestkunst in der Landschaft ihren Zweck erfüllt. Dabei stehen Sinn und Wirkung der Überraschung im Zentrum: Wer zum Beispiel hoch über dem Grimselpass mit einem Fussballspiel konfrontiert ist, wird sich nachhaltiger daran erinnern als an lange Presseartikel über den notwendigen Schutz der Alpen.

Sämtliche Kunstaktionen und TeilnehmerInnen: www.lartpourlaar.ch.

Adolf Urweider ist Künstler. Der heute 77-Jährige ­engagiert sich als Präsident des Grimselvereins im Widerstand, als 1988 die Pläne für ein monströses Pumpspeicherwerk an der Grimsel bekannt werden. Während seines Bauingenieurstudiums nimmt er teil an den jährlichen Messungen des Unteraargletschers durch die Eigentümerin KWO. Nach mehreren Jahren als Vermesser bei archäologischen Grabungen in den Wüstenlandschaften Israels und dem anschliessenden Studium der Bildhauerei an der Wiener Kunstakademie kehrt er, sensibilisiert für einsame Landschaften und Kunst, ins heimatliche Oberhasli zurück. Während nahezu 30 Jahren ist er an sämtlichen Kunstaktionen der Gruppe «l’art pour l’aar» beteiligt und hofft im Rückblick, damit zu einem bewussteren Umgang mit der fragilen Gebirgswelt beigetragen zu haben.