Aus Frust über die Grenzen der Dokumentar­fotografie hat Cristina de Middel ihren Job als Fotojournalistin an den Nagel gehängt. Die Gewinnerin des Greenpeace Photo Award 2016 bereut es nicht: Seit sie fiktive Kampagnen konzipiere und ihre Bilder stelle, komme sie wieder näher ans Publikum heran.

Keine Fotoausstellung, sondern eine Kakophonie der Bilder erwartete die BesucherInnen des Coalmine Forum für Dokumentarfotografie dieses Frühjahr in Winterthur. Hunderte Bilder waren wild in den Räumen verteilt – einige gross wie Werbeplakate, andere klein wie Visitenkarten, über- und nebeneinander gehängt, das­selbe Sujet dutzendfach wiederholt. Edle Kunstdrucke suchte man in der Ausstellung vergeblich, dafür gab es jede Menge bedruckte Stickers, Magnete, Tapeten, Billigkalender, Mausmatten, Girlanden und Bierflaschen. «Excessocenus» – die Epoche der menschlichen Exzesse – nennen die spanische Fotografin Cristina de Middel und ihr brasilianischer Partner Bruno Morais ihre eklektische Bildserie. Die skurrile Merchandisingflut in der Coalmine brachte ihr Thema schon durch die Materialisierung auf den Punkt.

An der Welt abgearbeitet

Es ist ein eiskalter Januartag. De Middel ist von ihrem derzeitigen Wohnort Uruapan im Südwesten Mexikos zur Vernissage nach Winterthur angereist. Sie mag die Kälte und das schlechte Wetter nicht, freut sich aber trotzdem sichtlich über die gelungene Inszenierung der Serie. De Middel, Anfang 40, weiss für sich und ihr Werk zu begeistern. Stets liegt ein Lächeln auf ihren Lippen. Kein unschuldiges und anbiederndes, sondern ein mit viel Ironie und Sar­kasmus geimpftes. Ein Lächeln, wie es nur Menschen tragen, die sich an der Welt abgearbeitet haben. Der aufgeklärte Humor findet sich auch in ihren Bildern wieder.

De Middels und Morais’ Projekt «Excessocenus» wurde im September 2016 von der Jury des Greenpeace Photo Award zur Umsetzung ausgewählt und mit 10’ 000 Euro gefördert. Die Idee: 40 Symbolbilder für Probleme zu schies­sen, an denen unser Planet aktuell krankt. Umgesetzt in Mosambik, an der Südostküste des afrikanischen Kontinents; dort also, wo Regierungen und Menschen trotz katastrophaler ökologischer Begleiterscheinungen dem westlichen Wachstumsmodell nacheifern. Das Duo stellte Bilder nach, welche die Konsequenzen makroökonomischer Exzesse im Alltag der Menschen in Afrika greifbar machen. De Middel bleibt vor einer Tapete stehen, die einen grossen Mann in einem rot-gelben Superheldenkostüm zeigt. Er posiert vor einem Stück frisch verbrannter Erde, von dem noch Rauch aufsteigt – «On Man and Fire» lautet der Titel des Bildes. Es weckt Assoziationen an Brandrodungen für den Anbau von Palmöl oder Soja.

Über Mensch und Feuer. Waldbrände sind eine der Hauptursachen für die Verringerung der grünen ­Gebiete und für die globale Erhitzung. Im Jahr 2000 wurden mehr als 3,5 Mio. Quadratkilometer Grün­flächen abgebrannt, die zu rund 80 Prozent in Wald- und Buschgebieten lagen. © Cristina de Middel / Bruno Morais

«Das Kostüm hatten wir aus Mexiko mitgebracht. Als wir mit dem Auto von Maputo der Küste entlang in den Norden fuhren, sahen wir plötzlich diesen Mann, der vor einem brennenden Feld stand. Das war genau das Bild, das wir im Kopf hatten. Wir hielten an, erklärten ihm unser Projekt, fragten, ob er für uns ins Kostüm steigen würde, fotografierten und bezahlten ihn. Du siehst, unsere Arbeitsweise ist sehr ‹punk›: ein Mix aus wildem Guerilla-Style-Fotojournalismus und Modeshooting, wo alles genau kontrollierbar ist.»

Drei Viertel der Sujets von «Excessocenus» heckten de Middel und Morais vorgängig in Skizzen aus. Darauf basierend kauften sie Requisiten und schleppten sie mit nach Mosambik. Einmal vor Ort, suchten sie über anderthalb Monate nach Menschen, Orten und Szenerien, um ihre Bilder im afrikanischen Kontext zu schiessen.

Vom Fotojournalismus zur «erweiterten Dokumentation»

Die Arbeitsweise des Duos ist die Antwort auf den beidseitigen Frust über die Limitierungen und falschen Versprechungen der Dokumentarfotografie. De Middel arbeitete jahrelang als Fotoreporterin für Lokalzeitungen in Alicante und Ibiza. 2006 besuchte sie ein Training für KriegskorrespondentInnen und reiste in ihren Ferien für aufwändige Reportagen an die Schauplätze von humanitären Katastrophen, um das Elend und die Verzweiflung mit ihrer Kamera einzufangen.

«Als ich das erste Mal für Médecins Sans Frontières in Haiti war, besuchte ich eine Frau im Spital. Sie bat mich, ihr zu helfen; sie brauche Geld für Medizin und ihre Familie. Ich sagte: ‹Aber ich helfe doch, ich fotografiere ja.› Sofort merkte ich, wie stupid und grausam sich das anhörte. Ich war nicht dort, um zu helfen; ich war dort, um Bilder zu schiessen, die ich später zuhause verkaufen würde. Danach fiel ich in ein tiefes moralisches Dilemma und verlor zunehmend mein Vertrauen in die Medien. Es musste sich etwas ändern.»

2010 hängte de Middel ihren Job an den Nagel, verliess ihren Partner und versuchte ihrem bisherigen Leben zu entfliehen. Sie landete in China, wo sie einige Leute kannte, und begann mit der Fotografie zu experimentieren. 2012 publizierte sie im Eigenverlag die Serie «The Afronauts», eine skurrile Nachstellung (Reenactment) einer gescheiterten Raumfahrtmission im Sambia der 60er-Jahre. Sie wurde zum globalen Erfolg und mit dem Infinity Award des Center of Photography in New York aus­gezeichnet.

Bruno Morais, mittlerweile ihr Ehemann, lernte de Middel 2015 beim Fotografieren des Projekts «Sharkification» in Rio de Janeiro kennen. Es war ihr Versuch, die Favelas als Cousteau’sche Unterwasserwelt zu porträtieren. Morais war in der Favela aufgewachsen, arbeitete als Pressefotograf und gründete das Colectivo Pandilla, um Jugendliche aus den Favelas zu Fotografen auszubilden und ihnen dadurch eine Perspektive zu eröffnen. Er traf de Middel zu einem Zeitpunkt, als er es satt hatte, für seine Auftraggeber immer dieselben Bilder schiessen zu müssen – zum Beispiel, wie die Unidade de Policia Pacificadora in die Favelas einrückte, um sie im Vorlauf der WM zu «säubern» und zu «befrieden». Neben dem Frust über die reine Dokumentation verband die beiden noch etwas: ihre Faszination für Afrika.

«Es wäre grossartig, wenn wir ‹Excessocenus› auch in Afrika zeigen könnten – dem in der Fotografie am meisten missverstandenen und mit Klischees behafteten Kontinent. In unserer Arbeit geht es uns um den Perspektivenwechsel; wir wollen Stereotypen und Klischees herausfordern. Deshalb haben wir uns für eine Art Pseudo-Werbekampagne entschieden – mit dem Ziel, Afrikanerinnen und Afrikaner für die drängenden globalen Umweltprobleme zu sensibilisieren.»

Morais und de Middel arbeiteten gerade an einem Projekt zu traditionellen afrikanischen Religionen in Benin, als sie die Einladung des Greenpeace Photo Award erreichte. Für beide war sofort klar: An einer reinen Dokumentation von Umweltzerstörung und -katastrophen waren sie nicht interessiert. Ihr Projekt sollte darüber hinausgehen.

«All diese apokalyptischen Bilder zum Zustand unserer Welt – die Klagen zwar immer an, tragen aber nichts zur Problemlösung bei. Seit 40 Jahren beklagen Fotografen und NGOs Umweltprobleme mit derselben Bildsprache. Es sind dramatische Reportagen, die den weissen Mann in den Industriestaaten dazu aufrufen sollen, den Armen in Entwicklungsländern zu helfen. Aber die Leute haben zu viel davon gesehen; sie reagieren nicht mehr darauf.»

«Expanded documentary» nennt de Middel ihre Fotografie heute. Die «erweiterte Dokumentation» ist nicht mehr nur dem Faktischen verpflichtet, sondern räumt sich die Freiheit ein, Geschichten fiktiv anzureichern. Und so fragt sich der Betrachter in Winterthur denn auch ständig: Ist das echt oder gestellt? Ist das überhaupt möglich, oder will mir da jemand einen Bären aufbinden? Wachsen Ananas tatsächlich als Früchte an einem Baum, wie es das Bild «On GM Crops»  suggeriert? Oder ist es das Ergebnis einer humorvollen Bastelei?

«Einzig mit Fiktion können wir die Welt überhaupt noch verstehen. In der Literatur und im Film arbeiten Künstler schon lange damit. Doch in der Fotografie gilt es noch immer als Sünde, vom dokumentarischen Dogma abzuweichen. Unsere Arbeit lädt den Betrachter deshalb auch stets dazu ein, sich kritisch mit der Fotografie und den Medien auseinanderzusetzen. Beide sind nicht unschuldig oder objektiv. Es gibt viele Wahrheiten, und je mehr wir davon sehen, desto besser.»