Die journalistische Arbeit orientiert sich immer stärker an der Twitter-und-Facebook-Logik: in aller Kürze schreiben, was möglichst grosse Reize auslöst. Das Gegenprogramm wären hintergründige Texte, die aufklären und die Welt ein Stück weit verändern.

In Krisen, Kriegen, Katastrophen kommen viele Helfer zum Einsatz: Ärzte, Feuerwehrleute, Sanitäter, Mitarbeiter von Hilfsorganisationen, Heerscharen von Freiwilligen. Sie alle packen an, lindern Schmerzen und Leid. Nicht immer ist die Hilfe gut durchdacht, manches Hilfsprojekt dient mehr der Spendenakquise oder der eigenen Profilierung. Dennoch leisten jene, die es umsetzen, in den meisten Fällen Grossartiges. Und wenn sie sich abends ins Bett legen, wissen sie: Ihr Tagwerk hatte einen Sinn.

Dann sind da die Journalisten – auch sie immer dabei, wenn Menschen sterben, fliehen, klagen, schreien. Wo Not und Elend herrschen, zücken Journalisten ihre Notizblöcke und Kugelschreiber, halten mit der Kamera auf die Leidenden und die Toten. Wenn sie sich abends ins Bett legen, wissen sie: Sie waren dabei. Aber geholfen haben sie nicht.

Journalisten sollten nach der reinen Lehre objektiv und unabhängig sein, im besten Fall empathisch. Sie sollten sich nicht gemein machen mit einer Sache, auch nicht mit einer guten. Aber was ist das, sich gemein machen? Beginnt das schon, wenn man immer wieder über dasselbe Thema berichtet? So wie die ermordete russische Journalistin Anna Politkowskaja, die vom Tschetschenien­krieg nicht loskam, auch dann nicht, als sie wusste, dass man sie früher oder später töten würde? Beginnt es, wenn der Journalist, wo Not herrscht, Stift und Kamera aus der Hand legt? Wie in der Hochphase der Flüchtlingskatastrophe, als auf einigen Mittelmeerinseln so viele überfüllte Boote anlandeten, dass jede Hand gebraucht wurde? Wer es wagte, als Journalist einfach nur rumzustehen, musste sich böse Worte anhören.

Flüchtlingsstation an der Ungarischen Grenze im Dorf Röszke im Jahr 2015.
© Bence Jardany / Greenpeace

Wenn im Journalismus über ethische Grundsätze diskutiert wird, kommt oft die Frage auf, wie weit man sich involvieren lässt. In seinem Buch «The Bang Bang Club», in dem es um die Erlebnisse von Fotografen während der Zeit der Apartheidkämpfe in Südafrika geht, beschreibt der Autor Greg Marinovich eine Szene, in der ein Mann brennt und dann erstochen wird. Nur halbherzig versucht Marinovich die Mörder abzuhalten, dann fotografiert er dieses Sterben. Später bekommt er für das Foto den Pulitzer-Preis. Ausgelassen feiert er ihn mit Freunden – und sagt zur Rechtfertigung, es sei seine Aufgabe, die Wirklichkeit abzubilden, nicht sie zu verändern.

Im gleichen Buch erzählt Marinovich vom Fotografen Kevin Carter, der ebenfalls den Pulitzer-Preis erhielt für sein Foto eines kleinen sudanesischen Mädchens, das geschwächt vom Hunger auf der Erde hockt – hinter ihm lauert schon ein Geier. Was er mit dem Kind gemacht, ob er ihm geholfen habe, wollen die anderen Fotografen wissen. Er bleibt die Antwort schuldig.

Daneben – oder mittendrin

Dass Journalisten, wenn die Welt sich von ihrer bösen, das Leben sich von seiner traurigsten Seite zeigt, meist nur danebenstehen und selten tätig helfen, ist ihr Dilemma. Diese Untätigkeit wird in der Traumapsychologie oft als Ursache für seelische Störungen betrachtet. Wir Journalisten halten jeweils mit dem Argument dagegen, wir gäben den Opfern immerhin eine Stimme und rüttelten die Gesellschaft mit unseren Berichten und Bildern auf.

Ist das noch so? Als ich vor fast zwanzig Jahren als freie Journalistin durch die Welt zu reisen begann, wollte ich mit meinen Geschichten etwas bewirken. Damals gab es genügend Geld für Recherchen und Abnehmer für Artikel, die Medien waren noch nicht in der Krise, Journalistin war ein geachteter Beruf. Ich reiste los und schrieb auf, was ich erlebte, wem ich begegnete. Ich schrieb über ein herzkrankes Mädchen in Tschetschenien, Petimat, ein bleiches, zartes Wesen, schon mehr tot als lebendig. Ich schrieb ohne Distanz, denn ich war tief getroffen. Die Leserinnen und Leser reagierten auf die Geschichte, spendeten für eine Herzoperation und Petimat durfte heranwachsen zu einer schönen Frau.

Ich schrieb über den Terroranschlag in der nordossetischen Stadt Beslan, bei dem mehr als 150 Kinder umkamen. Ich ging mit den Müttern durch die Leichenhallen und begrub mit ihnen ihre Kinder. An den Grabkreuzen hingen die Fotos, unschuldige Gesichter, und ich schrieb mir das Herz aus dem Leib, ich weinte und litt und wollte alles sein ausser einer distanzierten Journalistin. Wieder war die Spendenbereitschaft der Lesenden überwältigend und ich war im Reinen mit meinem Beruf.

Overkill und Überdruss

Doch die Welt veränderte sich – auch die Medienwelt. Kriege und Katastrophen begannen sich zu jagen und in den Redaktionen und bei den Lesern stellte sich eine Art Erschöpfung ein. «Schreib doch mal etwas Positives», hiess es immer öfter. Immer mehr Journalisten kämpfen darum, auf immer weniger Seiten ihre Themen unterzubringen. Zugleich verlieren sie die Hoheit über die Berichterstattung an Twitter und Facebook, an Apps, die Echtzeitnachrichten auf einer Plattform sammeln, und an Reisende, die alles in Blogs veröffentlichen.

Als für Reportagen kaum noch angemessene Honorare gezahlt wurden, hörte ich auf, einfach aufzuschreiben, was ich erlebte. Ich schreib nun Exposés für Redaktoren, in denen ich festlegte, welche Geschichte ich liefern würde – auch wenn ich wusste, die Wirklichkeit würde anders sein. Vor Ort begann ich das Leid zu ignorieren und hörte auf, nach Hoffnungsträgern zu suchen. Meine Auftraggeber wollten es so.

Meine Wörter reichten immer weniger aus, um die Komplexität der Welt abzubilden, da die Geschichten möglichst kurz, möglichst positiv und möglichst einfach sein sollten. Ich dachte oft über den Ausstieg aus diesem Beruf nach – aber am Ende blieb ich. Immerhin gab es, selten genug, auch gegenteilige Erfahrungen. Einmal schrieb ich über einen Bauern in Burkina Faso, der in der Sahelzone einen Wald gepflanzt hatte. Als er fertig war, kam die Regierung und sagte, das sei ihr Land, sie wolle darauf bauen und den Wald abholzen. Nach der Veröffentlichung des Artikels meldete sich jemand bei mir, der 50 000 Euro spendete. So konnte das Grundstück erworben und der Wald gerettet werden.

Solche Erlebnisse trugen mich, konnten aber das alte Feuer nicht mehr entfachen. Ich investierte immer mehr Zeit, um mich für komplexe Themen um Stipendien zu bewerben, weil die Redaktionen aufwändige Recherchen nicht mehr bezahlten. Ich passte meine Themenvorschläge dem an, was gerade gefragt war: Mädchengangs in Kriegsgebieten, IT-Spezialisten oder Philanthropen in Afrika. Meine Protagonisten hatten hip, schräg, zukunftsweisend oder aufstrebend zu sein.

Beharrlichkeit lohnt sich

Selbst wenn es gelingt, die Recherchekosten über Stipendien aufzufangen, bleibt immer noch die Suche nach einer Redaktion, die bereit ist, komplexen Themen Platz einzuräumen. Kürzlich recherchierte ich zum Thema Fisteln – Rissen zwischen Blase und Vagina oder Darm und Vagina. Sie entstehen, wenn Kinder bei der Geburt im Becken steckenbleiben oder Frauen vergewaltigt werden. Dann sind sie inkontinent, Urin und Stuhl fließen aus ihnen heraus, sie können keine Kinder mehr gebären, werden wertlos und leben verstossen in Isolation und Armut. Es wäre leicht, diesen Frauen zu helfen. Man bräuchte ein funktionierendes Gesundheitssystem, Hebammen, mehr Krankenstationen. Dass es die nicht gibt, liegt selten am Geld, sondern meist daran, dass arme Frauen in Afrika und Asien keine Lobby haben.

Ein Stipendium ermöglichte mir und einem Fotografen, im Kongo und in Äthiopien zu recherchieren. Als wir das Thema anzubieten begannen, erhielten wir lauter Absagen – von «Das ist aber eklig» über «Vergewaltigte afrikanische Frauen interessieren niemanden mehr» bis zu «Können Sie das so drehen, dass es hoffnungsvoll klingt?» Es dauerte, bis sich eine Redaktion bereit erklärte, unsere Geschichte mit den nötigen Hintergründen zu publizieren. Die Folge war eine Spendenflut.

Hunderte Leser boten auch Hilfe an nach einem Artikel über eine deutsche Ordensschwester in Ruanda. Sie hatte nach dem Völkermord hundert verwaiste Kinder in ihr Haus aufgenommen. Die meisten vermittelte sie an Pflegefamilien, andere zog sie selber gross. Ihr Orden entliess sie unehrenhaft, aber Schwester Milgitha brauchte keine Kirche, um Gutes zu tun. Sie blieb in Ruanda und kümmerte sich, obwohl sie selber arm war, um jene, die noch ärmer waren. Sie segnete mich zum Abschied und schrieb mir: «Meine liebe Andrea, ich bete, es möge Licht in deinem Leben sein.» Der Artikel über die Hingabe und das erlittene Unrecht bewegte die Menschen.

Nach Phasen des Zweifelns und Verzweifelns glaube ich heute wieder daran, dass das Leid anderer Menschen noch immer berühren kann. Aber solche Geschichten brauchen Raum. Man kann Kriege und Katastrophen, Lebensbrüche und Hoffnungsverluste nicht in Twitter-Meldungen, Facebook-Posts und Blogs abhandeln. Wenn Journalisten recherchieren, schreiben und angemessen erklären, können sie mehr tun als bloss daneben stehen – dann können sie die Welt ein Stück weit verändern.

Andrea Jeska (* 1964 in Bremerhaven) ist freie Journalistin und Schriftstellerin. Sie arbeitet für überregionale Printmedien, darunter Frankfurter Allgemeine Zeitung, Süddeutsche Zeitung, Frankfurter Rundschau, Freitag, Brigitte, Chrismon, African Times und Eurasisches Magazin. Sie wurde bekannt mit ihrem Erstlingswerk über die Opfer des Terroranschlags auf die Schule Nummer Eins im ossetischen Beslan.