Die Schweiz hat heute als letzte Nation den Länderbericht zum EU-Stress-Test für Atomkraftwerke veröffentlicht – eine Woche vor dem in Brüssel stattfindenden öffentlichen Meeting der Europäischen Kommission und der Europäischen Gruppe der Regulierungsbehörden für nukleare Sicherheit (ENSREG). Das Eidgenössische Nuklear-Sicherheitsinspektorat (ENSI) schlägt einen beruhigenden Ton an und bezeichnet den Sicherheitszustand der Schweizer Atomkraftwerke trotz vieler ungeklärter Fragen als gut. Greenpeace fordert für den weiteren Prozess den Einbezug von kritischen, unabhängigen Gutachtern zur Überprüfung der Risiken und Sicherheitsmängel.

Das gute Zeugnis, welches das ENSI den Schweizer AKW in der Bilanz ausstellt, steht im Widerspruch zu einer immer länger werdenden Liste von ungeklärten Sicherheitsfragen, die im Bericht zum Stresstest benannt werden. Drei Beispiele:

  1. Als neue Problemstellung wird im Bericht untersucht, ob die automatische Schnellabschaltung bei einem Erdbeben durch seismische Geräte ausgelöst werden kann.
  2. Wieder aufs Tapet kommt die im Rahmen der Hochwassernachweise einst abgehakte Frage nach einer Prüfung der Gefahr eines Ausfalls der Kühlung durch Verstopfung der Leitungen in drei Werken. Damit setzt das Ensi ein Fragezeichen hinter die Richtung, die mit den abgenommenen Hochwasserberichten eingeschlagen wurde.
  3. Unberücksichtigt bleiben die neuen Erkenntnisse über die Erdbebengefährdung in der Schweiz (Pegasos-Studie 2007). Die Werke müssen die Nachweise zur Erdbebenfestigkeit ihrer Atommeiler aufgrund der Pegasos-Datenlage erst bis Ende März 2012 abliefern. Somit dürften die jetzt im EU-Stresstest erhobenen Daten innert Kürze wieder zu Makulatur werden.

Das alles ist nicht beruhigend. Beruhigen soll aber die Tonlage des beschwichtigenden Berichts, der die kritischen Punkte mit Pauschallob übertüncht.

EU-Stresstest: Sicherheitsprüfung oder Alibiübung?

Die gesamteuropäische Sicherheitsüberprüfung droht zu einer Alibiübung zu werden, der sich die Schweiz nur allzu gerne anschliesst, um die alten Atommeiler weiter betreiben zu können.

Der EU-Stress-Test hat eine grundlegende Schwäche: Es werden weder einheitliche Sicherheitsstandards noch vergleichbare Normen beurteilt und gefordert. Zudem werden Risiko-Meiler am Netz belassen, obwohl geforderte Sicherheitsmassnahmen noch nicht umgesetzt sind. Damit wird der EU-Stress-Test zahnlos. Auch der heute veröffentlichte Schweizer Bericht weist diese strukturellen Mängel auf und folgt der Politik, lange Nachrüstungsfristen zu gewähren. Greenpeace kritisiert das europäische „Atom-Jekami“, in dem die europäische Behörde ENSREG von den einzelnen Staaten keinerlei Massnahmen gegen deren Partikularinteressen einfordern kann.

Der nächste Schritt sieht nun vor, dass im Februar und März Überprüfungsmissionen (Peer Reviews) in den Mitgliedsstaaten durchgeführt werden. Es ist zu befürchten, dass die Lehren aus Fukushima nicht gezogen werden, wenn in der Folge nicht konsequent die Mängel an den europäischen Anlagen behoben werden.

Das sind die Kern-Kritikpunkte von Greenpeace an den EU-Stresstests:

1. Eine unabhängige Sicherheitsüberprüfung ist nicht gegeben
Pikant ist, dass bei den Sicherheitsüberprüfungen die Prüfer ihre eigenen Untersuchungen der vergangenen Jahre kontrollieren. Bis heute ist keine Möglichkeit erkennbar, wie unabhängige und kritische Organisationen Einfluss auf die Peer Reviews nehmen können, um die daraus resultierende Betriebsblindheit zumindest teilweise zu verhindern. Weitere Erschwernis: Es ist ein ungeschriebenes Gesetz, dass sich nationale Aufsichtsgremien gegenseitig nicht öffentlich kritisieren. Es ist deshalb nicht darauf zu vertrauen, dass die Sicherheitsüberprüfung die nötige Strenge und Konsequenz aufweisen oder Kritik an die Öffentlichkeit dringt.

2. Schwammiger Sicherheitsbegriff
Jedem produzierenden Atomkraftwerk haftet das Risiko einer Kernschmelze oder eines schweren Atomunfalls an. Absolute Sicherheit gibt es nicht. Wenn nun das ENSI neuerdings verkündet, „Sicherheit sei ein Prozess und kein Zustand“  und beispielsweise Mühleberg „knapp im grünen Bereich“ sieht, liefert auch die Schweiz einen kreativen Beitrag zur Verwässerung des Sicherheitsbegriffs, wie sie momentan auf dem europäischen Parkett im Gang ist.  Aktuell sieht sich fast jedes Land in Europa als jenes mit dem sichersten Atompark. Selbst Russland behauptet heute, alles sei im grünen Bereich.

3. Auch mit den Stress-Tests wird die Harmonisierung der Sicherheits- und Präventionsauflagen auf gesamteuropäischer Ebene nicht hergestellt

Jedes Land operiert nach wie vor nach eigenen nationalen Richtlinien und Gesetzen. Versuche einer Vereinheitlichung der Sicherheitsanforderungen (etwa durch die Vorgaben der Westeuropäischen Aufsichtsorganisation, WENRA) sind auf europäischer Ebene bisher nicht auf nationaler Gesetzes- und Verordnungsstufe vollzogen worden. Die für neue Reaktoren verlangten Sicherheitsstandards werden bei den laufenden Reaktoren – auch in der Schweiz – bei weitem nicht erreicht.

4. Transparenz steht zwar auf dem Programm, wird aber bislang nicht eingelöst
Die ENSREG hat für den laufenden Prozess Transparenz und Mitspracherecht empfohlen. Sie stellt zwar eine Internetplattform für Fragen an die Gutachter zur Verfügung. Gleichzeitig wird darauf aufmerksam gemacht, dass die Fragen nicht individuell beantwortet werden und keine Korrespondenz geführt wird. Die Gutachter würden selbst und nach eigenem Gutdünken entscheiden, welche Aspekte in die Untersuchungen einfliessen. Damit gibt es für die interessierte Öffentlichkeit bislang keine verbindliche Möglichkeit der Mitsprache im anberaumten Peer Review Prozess.

Deshalb fordert Greenpeace:

  • Das ENSI soll sich dafür einsetzen, dass unabhängigen und atomkritischen Organisationen vor der Prüfung des Schweizer Berichts durch die „Peer  Review Group“  Gelegenheit gegeben wird, kritische Fragen mitzugeben und Antworten zu erhalten.
  • Das ENSI soll sich für die Harmonisierung der Sicherheitsstandards auf gesamteuropäischer Ebene einsetzen und die Sicherheits-Referenzwerte übernehmen.
  • Das ENSI soll dem Prinzip der Vorsorge auf europäischer Ebene Nachdruck verschaffen und sich dafür einsetzen, dass der Betrieb von sicherheitskritischen AKW erst gestattet wird, nachdem die erforderlichen Sicherheitsmassnahmen umgesetzt worden sind. Dies ist momentan nicht der Fall. So sind beispielsweise die A-Werke Garona (Sp), Doel 1 + 2 (Be), Fessenheim (F) und Mühleberg am Netz, obwohl schwerwiegende Sicherheitsmängel bestehen. Dies widerspricht einer der wichtigsten Lehren aus Fukushima, wo trotz Kenntnis aus früheren Jahren der Schadenpotentiale durch Erdbeben der Weiterbetrieb der besonders exponierten Anlagen weiter gestattet wurde.
  • Die Untersuchungen der Sicherheitseinrichtungen der AKW in der Schweiz müssen auch andere mögliche Vorkommnisse und die Kombination von Ereignissen (Brand, Flugzeugabsturz, andere mögliche äussere Einwirkungen u.a.) einschliessen und neu beurteilen.

Greenpeace wird sich an dem in Brüssel am 17. Januar stattfindenden öffentlichen Meeting der Europäischen Kommission und der Europäischen Gruppe der Regulierungsbehörden für nukleare Sicherheit (ENSREG) dafür einsetzen, dass der EU-Stress-Test nicht zu einer weiteren Alibiübung für die Atomindustrie wird.