Im Kernenergiegesetz wurde das Referendum gegen neue Atomkraftwerke verankert. Nur Atomanlagen mit «geringem Gefährdungspotenzial» müssen nicht vors Volk. Was noch als «geringe» Gefährdung gelten kann, bestimmt der Bundesrat mit einem Grenzwert. In der nun als Entwurf vorliegenden Kernenergieverordnung zieht er diese Grenze bei 100 Millisievert Strahlenbelastung. Das ist viel zu hoch. Damit würde das Referendumsrecht total ausgehebelt. Denn mit einem derart überhöhten Grenzwert könnte gegen kein neues Atomkraftwerk jemals das Referendum ergriffen werden.

Zürich. Mit dem neuen Kernenergiegesetz wird – erstmals in der Schweiz – das fakultative Referendumsrecht gegen neue Atomkraftwerke eingeführt. Dies als späte Lehre aus der Auseinandersetzung um das AKW Kaiseraugst, wo 11 Wochen lang der Bauplatz besetzt worden war. Über neue Atomkraftwerke sollte künftig demokratisch an der Urne abgestimmt werden. Im Parlament wurde dieses neue Volksrecht auch von den Vertretern der Atomwirtschaft mit keinem Wort in Frage gestellt.

Das neue Gesetz räumt dem Bundesrat die Befugnis ein, für Atomanlagen mit «geringem Gefähr-dungspotenzial» Ausnahmen zu machen. Was noch als «geringe Gefährdung» gelten kann, muss er mit einem Grenzwert bestimmen. Solche Anlagen brauchen keine Rahmenbewilligung und müssen nicht dem fakultativen Referendum unterstellt werden.

Im Entwurf für die Kernenergieverordnung setzt der Bundesrat nun aber die Bagatell-Grenze bei 100 Millisievert (mSv) Strahlenbelastung nach Unfällen an. Das ist viel zu hoch, wie Abklärungen von Green-peace ergaben:

Bei neuen Reaktoren wie dem EPR (European Pressurized Reactor), der zurzeit in Finnland geplant und gebaut wird, ist nach Unfällen mit einer Strahlenbelastung von 0,1 mSv zu rechnen. Der Grenzwert des Bundesrates ist 1000-fach überhöht.

Der Grenzwert ist so hoch, dass nicht einmal die ältesten schweizerischen Atomkraftwerke vors Volk müssten. Bei Beznau und Mühleberg hätte der schwerste Unfall, mit dem von Gesetzes wegen gerechnet werden muss, eine Strahlenbelastung von lediglich 3 bis 5 mSv zur Folge. Sogar gemessen an diesen unsichersten AKW ist der Grenzwert für neue AKW 20- bis 30-fach ü-berhöht.

Nach einem Strahlenunfall sind 100 mSv nach schweizerischem Strahlenschutzrecht die kritische Schwelle für die Evakuierung der Bevölkerung. Schon lange vorher kommen die Verbote, den Salat aus dem eigenen Garten zu essen, die Kinder im Sandkasten spielen zu lassen und dem Baby die Brust zu geben. Von «geringer Gefährdung» kann somit keine Rede sein.

Diese Fakten mussten auch den Fachleuten in den Ämtern bekannt gewesen sein. Haben beamtete Atomkraftfans Bundesrat Leuenberger ein Kuckucksei gelegt? Greenpeace bat Leuenberger am Freitag, umgehend klar zu stellen, dass er eine Aushebelung des Referendums gegen neue AKW nicht dulden werde. Doch er lässt sich mit der Antwort Zeit. Deshalb doppelte Greenpeace mit einem Kurzbericht von WISE-Paris und mit einem Offenen Brief nach und stellt folgende Fragen: Wurde der Bundesrat von den Ämtern darüber informiert, dass mit dem überhöhten Grenzwert das fakultative Referendum gegen neue Atomkraftwerke vollständig ausgehöhlt würde und ist es tatsächlich seine Absicht, dieses Volksrecht auf dem kalten Weg auszuhebeln? Falls nein: Wurde er möglicherweise von den Atomkraftanhängern in den Ämtern bewusst irregeführt? Falls es sich um ein Versehen han-delt: Ist den Fachleuten in den Ämtern überhaupt noch zu trauen, wenn sie derart dilettantische Fehler mit so schwerwiegenden Folgen machen? Und: Gibt es weitere Fehler, etwa bei den Abschaltungskriterien, wo die Verordnung ebenfalls einen zehn- bis hundertmal zu riskanten Sicherheitsgrenzwert vorsieht?

Kontakt:

Leo Scherer, Atom-Kampagne Greenpeace Schweiz 01 / 447 41 23 oder 078 720 48 36