Trauriges Jubiläum: Heute vor 10 Jahren bebte in Japan die Erde und es kam zum Atomunfall von Fukushima. Im Interview erinnert sich Greenpeace-Atomexperte Florian Kasser zurück an den verheerenden Tag und erzählt, welche Auswirkungen die Katastrophe sowohl vor Ort als auch hierzulande hatte – und was die Schweiz daraus hätte lernen müssen.

Florian Kasser, 10 Jahre sind seit der Nuklearkatastrophe von Fukushima vergangen. Wie hattest du den 11. März 2011 erlebt?

Ich weiss noch ganz genau, wo ich damals war, als mich ein Kollege von Greenpeace Schweiz anrief und sagte, ich solle schleunigst ins Büro kommen. Stunde um Stunde sassen wir dann da und haben die Ereignisse verfolgt und mit anderen Greenpeace-Büros analysiert. Zuerst verschwiegen die japanischen Behörden die verheerenden Auswirkungen des Erdbebens noch, doch nach und nach wurde klar, dass wir es neben einer Naturkatastrophe auch mit einem Atomunfall zu tun hatten. Alles in allem war das Unglück eine unheimlich prägende Erfahrung.

Die japanischen Behörden liessen sich Zeit, die Atomkatastrophe einzugestehen, doch für die Anwohner*innen rund um das AKW Fukushima Daiichi kamen die Folgen unmittelbar.

Ja, viele Anwohner*innen haben innerhalb weniger Stunden alles verloren, was sie besassen. Sie mussten ihr ganzes Hab und Gut zurücklassen, um vor der radioaktiven Wolke zu fliehen. Seither ist ihr Land kontaminiert. Einige wenige haben sich in der Zwischenzeit mit der Situation arrangiert, doch das Leben der meisten Betroffenen ist weiterhin von grosser Unsicherheit und fehlender Zukunftsperspektive geplagt.

Eine ehemalige Anwohnerin besucht ihr Haus in Namie und betrachtet den kotaminierten Garten. © Shaun Burnie / Greenpeace

Japan propagiert seit dem Unglück die Rückkehr zur Normalität und hob mittlerweile sogar für einige Gebiete die Evakuierungsordnung auf. Greenpeace hingegen führte vor Ort regelmässig Strahlenmessungen durch und warnt vor zu hohen Werten. Was stimmt?

Die japanischen Behörden haben zwar Anstrengungen unternommen, um die radioaktive Erde rund um Fukushima abzutragen, gleichwohl wird die Region aber noch jahrzehntelang lang verseucht bleiben. Das zeigt der kürzlich von Greenpeace Japan veröffentlichte Bericht «Fukushima 2011-2020». In Namie und Iitate, zwei Gebiete, in denen die Evakuierungsanordnungen im Jahr 2017 aufgehoben wurden, liegen die Strahlungswerte weiterhin über den sicheren Grenzwerten und setzen die Bevölkerung möglicherweise einem erhöhten Krebsrisiko aus. Auch die Rückbauarbeiten an der AKW-Ruine dürften noch über Jahre hinweg andauern. Von der Normalität, die Japan immer wieder aufs Neue beteuert, kann also keine Rede sein.

Du bist mit Greenpeace Schweiz viermal an den Unglücksort gereist. Was war das für ein Gefühl, die Auswirkungen der Katastrophe mit eigenen Augen zu sehen?

Es war sehr bedrückend. Radioaktivität kann man weder sehen noch riechen und trotzdem weiss man, sie ist da. Die Natur um einen herum, die normalerweise eine Oase der Erholung ist, stellt auf einmal eine Gefahr dar, weil sie verseucht ist. Auch der Besuch von liebevoll eingerichteten Häusern, die innerhalb weniger Minuten verlassen wurden, hat meine Wahrnehmung der Katastrophe sehr geprägt. Die untragbaren Aspekte der Atomkraft wurden plötzlich real.

Was hat sich an der Atompolitik Japans seit dem verheerenden Tag geändert?

Vor dem Unfall hatte die japanische Bevölkerung die Nukleartechnologie kaum hinterfragt. Das hat sich seither radikal geändert, und erneuerbare Energien haben einen regelrechten Boom erlebt. Allerdings schützt die Regierung auch die Interessen grosser Stromunternehmen, weshalb die Energiewende nur schleppend vorangeht.

Aktivist*innen protestieren in Tokio gegen den Plan der Regierung, kontaminiertes Wasser aus Fukushima in den Pazifik zu leeren. © Masaya Noda / Greenpeace

In der Schweiz löste das Atomunglück zwar eine Neuausrichtung der Energiepolitik aus. Trotzdem lehnte die Schweizer Bevölkerung fünf Jahre später den kompletten Atomausstieg ab. Was hat das zu bedeuten?

Nach Fukushima hat die Energiepolitik der Schweiz tatsächlich Quantensprünge gemacht. Wenige Tage vor der Katastrophe wollte die Stromwirtschaft noch drei neue AKWs bauen. Unterdessen ist der Neubau von Reaktoren hierzulande gesetzlich verboten und die Schweiz richtet ihre Energieversorgung auf erneuerbare Energien und mehr Effizienz aus. Die Ablehnung eines klaren Fahrplans zur AKW-Abschaltung durch das Schweizer Volk kam dementsprechend schon wie ein kleiner Wermutstropfen daher. Es fehlt dadurch an dringend nötiger Planungssicherheit.

Hierzulande birgt vor allem das Kernkraftwerk Beznau als ältestes AKW der Welt viele Gefahren für die Bevölkerung. Weshalb bleibt es in Betrieb?

Das frage ich mich auch! Jüngst wurde im Dezember 2020 erneut bekannt, dass ein zentrales Sicherheitssystem des AKWs seit Jahrzehnten nicht funktionstüchtig war. Und auch kürzlich veröffentlichte Untersuchungen zum Hochwasserrisiko stellen die Sicherheit der Anlage zum wiederholten Mal infrage. Addiert man zusätzlich die mangelhafte Erdbebensicherheit, gegen die Anwohner*innen aktuell gemeinsam mit Greenpeace und weiteren Organisationen vorgehen, ergibt sich ganz klar: Beznau ist nicht mehr tragbar.

Aktivist*innen bilden im Rahmen einer Aktion vor dem AKW Beznau mit Ballons das berühmte Bild «Der Schrei» von Edvard Munch nach. © Andreas Fischer

Zumindest war 2019 für das AKW Mühleberg Schluss. Doch mit Beznau 1 und 2 und den Kernkraftwerken in Gösgen und Leibstadt sind noch immer vier Atomanlagen in der Schweiz in Betrieb. Was fehlt zur Ausserbetriebnahme?

Ein Ausstiegsfahrplan mit fixen Abschaltdaten für die verbleibenden Reaktoren. Mit deren Stilllegung wird für unser dicht bevölkertes Land mehr Sicherheit geschaffen und der Strombranche, der Politik wie auch den Konsument*innen eine gewisse Planungssicherheit gegeben. Der Bundesrat hat demgemäss kürzlich skizziert, wie die Klimaneutralität in der Schweiz erreicht werden soll. Und Atomkraftwerke sind nicht Teil dieser Lösung.

Zum Schluss: Was ist das Wesentliche, das die Schweiz aus den Ereignissen von Fukushima hätte lernen müssen?

Zu viele Menschen haben das Gefühl, Schweizer Atomkraftwerke seien im Vergleich zum Rest der Welt besser, ergo stabiler konstruiert. Diese Mentalität verkörpern leider auch die hiesigen AKW-Betreibenden sowie das Eidgenössische Nuklearsicherheitsinspektorat (ENSI). Und genau diese Unterschätzung des Risikos hat in Japan letztendlich zur Katastrophe geführt.


Wir engagieren uns für mehr Transparenz und Sicherheit bezüglich AKWs in der Schweiz. Denn auch hierzulande ist das Thema Atomkraft nicht abgeschlossen.

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Greenpeace Schweiz führt zur Zeit zwei Gerichtsverfahren zu mehr Transparenz und Sicherheit bezüglich AKWs:

  1. Das Bundesverwaltungsgericht hat im Jahr 2017 entschieden: Die Bevölkerung hat Anrecht auf mehr Transparenz zur Gefährdung durch AKWs. Im Streit um eingeschwärzte Unterlagen zum Zustand von Beznau 1 gab das Bundesverwaltungsgericht Greenpeace Schweiz recht und korrigierte die Geheimhaltungs-Praxis des ENSI. Die Atomaufsichtsbehörde darf ein 950-seitiges Dokument zur Abnützung des Druckbehälters nicht pauschal einschwärzen. Doch noch immer blockiert das ENSI die Freigabe von geschwärzten Stellen. Greenpeace ist darum zum zweiten Mal mit ihrer Forderung an das Bundesverwaltungsgerichtes gelangt.
  2. In einem zweiten Verfahren fechten Anwohner*innen des AKW Beznau den Entscheid des Bundesverwaltungsgerichts zur Vorsorge gegenüber schweren Erdbeben im AKW Beznau vor Bundesgericht an. Sie tun dies mit Unterstützung von Greenpeace, der Schweizerischen Energie-Stiftung (SES) und dem Trinationalen Atomschutzverband (TRAS). Zuvor hat eine eingehende Analyse ergeben, dass der Entscheid nicht überzeugt und stattdessen die übergeordneten Schutzinteressen der Bevölkerung missachtet.