Im Mittelalter galten in Europa strenge Fastenregeln. Weil sie den Konsum von Hühnern erlaubten, kam es zum Boom dieser Haustiere – mit Folgen bis heute.

Hat der liebe Gott die Welt erschaffen? Darüber streiten sich die Geister bis zum heutigen Tag. Zumindest aber haben seine treuen Diener auf Erden gehörig in den Lauf der Natur eingriffen. Dass unser liebstes Federvieh – das Haushuhn – so ist und sich so verhält, wie wir es kennen, haben wir in erster Linie den Benediktinermönchen zu verdanken.

Mit ihren strengen Fastenregeln prägten sie die Ernährungsgewohnheiten der Menschen im Mittelalter und lösten damit einen eigentlichen Boom in der Haltung und der Zucht von Hühnern in Europa aus. Zu diesem Schluss kommt ein britisches Team von Archäologen, Genetikern und Zoologen um Greger Larson von der University of Oxford in einer neuen Studie («Molecular Biology and Evolution», online.)

Die Domestikation von Rindern, Schafen oder Schweinen begann vor mehr als 10 000 Jahren. Durch die Zuchtwahl des Menschen nahmen diese Tiere schon bald die Eigenschaften an, die noch heute für sie typisch sind – etwa, dass Schafe dem Menschen nicht nur Fleisch, sondern auch Wolle liefern. «Bei den Hühnern lief die entsprechende Entwicklung erst sehr viel später ab», erklärt der Bioarchäologe Greger Larson.

2010 analysierte er zusammen mit anderen Forschern aus Knochenresten das Erbgut von 80 Hühnern. Sie stammten aus der Zeit von 280 v. Chr. bis 1800 n. Chr. und waren in verschiedenen archäologischen Fundstätten in Europa ausgegraben worden. Zu Larsons Überraschung zeigte das antike Federvieh an den entscheidenden Stellen des Erbguts wenig Übereinstimmung mit den Hühnern aus dem 18. Jahrhundert.

Den antiken Hühnern fehlten die Gene für die heute am meisten verbreitete gelbe Farbe der Beine. Vor allem aber wiesen nur wenige dieser Tiere jene Variante des TSHR-Gens auf, die typisch für moderne Hühner ist («PNAS», Bd. 111, S. 6184). Hühner mit zwei Kopien dieser TSHR-Variante können sich über das ganze Jahr hinweg fortpflanzen, sie sind weniger aggressiv, zeigen weniger Scheu vor dem Menschen und legen schneller Eier, wenn sie erwachsen sind.

Larsons Folgerung: Die Zucht von Hühnern auf für den Menschen nützliche Eigenschaften nahm erst in den letzten 500 Jahren so richtig Fahrt auf. Im Zeitraster der Evolution entspricht das nicht viel mehr als der Dauer eines Wimpernschlags.

© Markus Burke

Hühnerfleisch in der Fastenzeit

Mithilfe einer statistischen Analyse konnten Larson und sein Team nun in ihrer neuen Studie aufzeigen, dass sich der Selektionsdruck auf das TSHR-Gen um 1000 n. Chr. – zur Zeit des Hochmittelalters – zu entwickeln begann. Dazu passt, dass in archäologischen Fundstellen in Deutschland und England vom 9. Jahrhundert bis ins 12. Jahrhundert immer häufiger Knochen von Hühnern entdeckt wurden. Offensichtlich fingen die Menschen in dieser Periode an, vermehrt Hühner zu halten und zu konsumieren.

Aber warum änderten sie ihre Ernährungsgewohnheiten, nachdem Hühner bei den Römern selten auf dem Speisezettel standen? Es war die Zeit, als vom burgundischen Benediktinerkloster Cluny die Cluniazensische Reform ausging, sich nach England ausbreitete und schliesslich weite Teile Europas erfasste. Mit strengen Glaubensregeln wollten die Benediktinermönche den moralischen Niedergang der katholischen Kirche aufhalten, der nach dem Ende des Karolingerreichs um 900 n. Chr. eingesetzt hatte.

Teil dieser Bewegung der geistigen Erneuerung waren auch umfangreiche Fastenregeln, die während 130 bis 160 Tagen im Jahr Gültigkeit hatten und die von den Menschen bis in die Neuzeit befolgt wurden. Als Fastenspeisen galten Gerichte aus Weizen- und Roggenmehl, Trockenfrüchte und Fische. «Wobei man die Bezeichnung ‹Fisch› damals sehr weit auslegte und auch Wassertiere wie den Biber oder am Wasser lebende Hühner, Enten und Gänse dazuzählte», erklärt Franz Xaver Bischof, Professor für Kirchengeschichte des Mittelalters und der Neuzeit an der Ludwig-Maximilians-Universität in München.

Zudem soll Rabanus Maurus, der Abt des Klosters Fulda, gesagt haben, Gott habe die zweibeinigen Tiere am gleichen Tag wie die Fische geschaffen, deshalb sei der Verzehr von Hühnern während der Fastenzeit erlaubt. Die Forscher um Larson sind deshalb überzeugt: Die besagten Varianten des TSHR-Gens mit den für den Menschen vorteilhaften Eigenschaften von Hühnern haben sich als Folge einer religiös motivierten Entscheidung im Hochmittelalter durchgesetzt.

«Diese These ist interessant und gut begründet», sagt Jörg Schibler, Professor für prähistorische und naturwissenschaftliche Archäologie an der Universität Basel. Allerdings müsse man auch den sozialgeschichtlichen Kontext berücksichtigen. «Hühnerknochen sind im Zusammenhang mit dem Adel häufiger», erklärt Schibler. «In der Schweiz haben wir auf den Burgen oder in bevorzugten Wohnbereichen von Städten immer höhere Anteile von Hühnerknochen gefunden.»

Bauern haben die Hühner produziert, konsumiert wurden sie durch sozial höhergestellte Schichten. Auch die Zehnten, also die Abgaben an die Grundherren, bestanden oft aus Hühnern. «Der durchschnittliche Einwohner in mittelalterlichen Städten konnte sich Hühnerfleisch gar nicht leisten», sagt der Basler Archäologe.

Bevölkerungswachstum als Treiber

Religiös inspirierte Nahrungspräferenzen waren vermutlich ein wichtiger, wenn auch nicht der einzige Faktor, der den Konsum von Hühnern im Mittelalter angetrieben hat. In dieser Zeit stiegen die Bevölkerungszahlen an, und die Urbanisierung kam in Gang. Möglich wurde diese Entwicklung durch die Einführung effizienterer Produktionsmethoden in der Landwirtschaft, wie etwa der Dreifelderwirtschaft, sowie durch Erfindungen wie den schweren Eisenpflug. Auch herrschten während der mittelalterlichen Warmzeit für den Menschen vorteilhafte Umweltbedingungen.

Zwar blieben die Leute in den Städten für die Versorgung mit Lebensmitteln von den Bauern im Umland abhängig, aber es könnte für die wachsende Bevölkerung durchaus ein Vorteil gewesen sein, Hühner in kleinen Herden oder Käfigen zu halten. Tiere, die ruhiger waren und schneller und mehr Eier legten, waren dazu perfekt geeignet. Genau diese Eigenschaften zeichneten Hühner mit der neuen Variante des TSHR-Gens aus, die sich damals durchsetzte.

Die Benediktinermönche hätten sich wohl nie träumen lassen, dass sie eine solche Entwicklung anstossen sollten.

Die Zucht von Hühnern zu eigentlichen Hochleistungstieren hat in Europa vor 100 bis 150 Jahren eingesetzt. Doch seit den 1950er Jahren sind die Zuchtfortschritte um ein Vielfaches grösser als während der vergangenen 4000 Jahre. «Es hat ein regelrechter Quantensprung stattgefunden», erklärt Ruedi Zweifel, Direktor des Geflügel-Fachzentrums Aviforum in Zollikofen.

Die ältesten sicher nachgewiesenen Überreste von domestizierten Hühnern stammen aus der Zeit von 2000 bis 2500 v. Chr. – aus der Harappa-Kultur im Nordwesten des indischen Subkontinents. Heute werden die Tiere als sogenannte Hybridhühner in zwei voneinander völlig getrennten Linien gezüchtet: Legehühner, die bis 320 Eier im Jahr produzieren, und Masthühner, die schnell Fleisch ansetzen.

«Das sind zwei konträre Zuchtlinien, deren Eigenschaften sich gegenseitig ausschliessen: Je besser ein Tier Fleisch zulegt, desto weniger Eier legt es – und umgekehrt», sagt Ruedi Zweifel. Das Ziel weiterer Zuchtbemühungen besteht darin, dass die Tiere noch effizienter Futter in Fleischzuwachs und Eimasse umsetzen.

«Die moderne Zucht hat die Hühner an die Grenzen des biologisch Möglichen getrieben», sagt der Bioarchäologe Greger Larson. Die Benediktinermönche im Mittelalter hätten sich wohl nie träumen lassen, dass sie eine solche Entwicklung anstossen sollten. Sie wollten sich doch nur auf die Werte Gottes zurückbesinnen.

Die Karriere des Haushuhns

2500 v. Chr.: Erste belegte Funde des Haushuhns, seine Stammform ist das heute noch wildlebende Bankivahuhn.

700 v. Chr.: Aus der frühen Eisenzeit stammen die ersten Funde von Haushühnern in Europa.

1. Jh. n. Chr.: Der römische Schriftsteller Lucius Columella beschreibt die landwirtschaftliche Zucht von Hühnern.

1000 n. Chr.: Im Mittelalter wird die Hühnerzucht in Europa zu einem Kulturfaktor.

21. Jahrhundert: Hochgezüchtete Hühner legen entweder viele Eier oder setzen schnell Fleisch an.

Dieser Artikel wurde am 29.05.2017 auf https://nzzas.nzz.ch publiziert.