Wer wegschaut, wenn man hinschauen sollte, unterstützt «Machenschaften»: Skandale, Ungereimtheiten, Mauscheleien. Er will ES nicht wissen, ist buchstäblich ignorant. Das fällt in einer Zeit der Mafiagesellschaften, der Korruption und der Steuerschlupflochsucher und -hinterzieher besonders ins Gewicht.

Eine Kolumne von Markus Waldvogel

Dem barocken Molière (1622–1673) wäre zuzustimmen … wäre, denn das Zitat im Titel ist nicht von Molière, obwohl wichtige Zitate-Websites es dem unbequemen Autor zuschreiben. Molière hätte sich allerdings kaum gegen das Bonmot gewehrt, Fake hin oder her.

Molière hat vor allem Ignoranten und ihre Schutzherren aufs Korn genommen. Mächtige und Einflussreiche jeglicher Couleur mussten bei ihm ebenso unten durch wie ihre Steigbügelhalter. Deshalb versuchten sie geeint und mit allen Mitteln, den widerborstigen Zeitgenossen mundtot zu machen. Das gelang mitunter auch. Erfolg hatte unter anderem eine streng katholische Gruppe von Höflingen um die Königinmutter Anna von Österreich, die ein Verbot des berühmten Stücks «Tartuffe» bei Ludwig XIV. durchsetzen konnte. In «Tartuffe» wird ein scheinheiliger Geistlicher als lüsternen Betrüger enttarnt. Auch in einer abgeschwächten Form wurde das Stück am Ende verboten. Ein strenggläubiger Clan von Ignoranten hatte sich durchgesetzt.

Molière war ein französischer Schauspieler, Theaterdirektor und Dramatiker.

Trotzdem: Molière erzielte – mit Scharfsinn und einer unbestechlichen Beobachtungsgabe – grosse Wirkung. Er war gefürchtet. Die Mächtigen spürten eine aufkommende «Bürgerbewegung» und den Religiösen drohte das Feld der Moral und damit ihre beliebteste Spielwiese zu entgleiten. Heute ist es anders mit der Brandmarkung von Ignoranz. Wenn etwa in Konstanz im Frühjahr 2017 das Buch des Schriftstellers, Philosophen und Mafiajägers Roberto Saviano als Theater aufgeführt wird oder der bekannte italienische Journalist Sandro Mattioli mit einem Kriminalhauptkommissar in einem «Theatre Talk» über «Die Mafia und Deutschland» diskutiert, interessiert das zwar ein grösseres Publikum. Was schwelt unter der glänzenden Oberfläche unserer Konsumgesellschaft? Wer hält die Konsummaschinerie am Laufen? Und mit welchen Mitteln? Was ist ein Leben wert? Solche Fragen treffen den Nerv vieler Menschen. Mattiolis Beiträge machen hellhörig. Doch an wen wendet sich heute ein aufklärerischer Journalismus? Gibt es noch eine öffentliche Meinung, die als Adressatin verlässlich wäre? Was macht ein normaler Bürger, wenn er beispielsweise von den Aktivitäten des Rohstoffgiganten Glencore erfährt?

In einem Blog zu den Paradise Papers las ich kürzlich, dass man völlig bescheuert sein müsse, wenn man dem Umverteilungsstaat nicht so viel Steuern wie möglich entziehen wolle. Für den erwähnten Blogger sind «die Linken» Ignoranten, die nicht sehen wollen, dass Steuergelder für sinnlose Entwicklungshilfeprojekte oder eine völlig verfehlte Flüchtlingspolitik ausgegeben werden. Das angesprochene rotgrüne Lager schüttelt seinerseits den Kopf angesichts der steuerpolitischen Tricks von umweltschädigenden Grossfirmen wie Glencore und weist darauf hin, dass einmal mehr die Gewinne privatisiert und die Kosten sozialisiert würden.

Noch einmal die Frage. Gibt es die übergeordnete, verbindliche Instanz, die das Gezänke unter den Bürgerinnen und Bürgern schlichten könnte? Haben internationale Organisationen diese Rolle? Setzen sich die Vertreter der grössten Imperien wirklich an einen Tisch, um Probleme zu lösen, oder geben sie nur vor, dies zu tun, und spielen in Wahrheit einen gigantischen Poker um die Machtwurst? Wird zum Beispiel das Müllproblem, das in jüngster Zeit in der Gestalt des Plastikwahnsinns Schlagzeilen macht, erst seriös angepackt, wenn die volkswirtschaftlichen Schäden mehr als nur augenfällig sind? Wenn es so wäre, hiesse das, dass «der Markt» es zwar sehr spät, aber schon noch richten würde. Das ist nicht mehr als ein Glaubenssatz: Die heilige Marktökonomie erhält gewissermassen göttliche Vollmacht. Die neuesten OECD-Empfehlungen an die Schweiz bestätigen das: Da braucht der Markt plötzlich eine politisch inszenierte Abholzung von Teilen der öffentlichen Hand, um sich stromlinienförmig zu entwickeln; da soll kaum getarntes neoliberales Gedankengut ohne Wenn und Aber einen differenzierten und historisch gewachsenen Staat in die Schranken weisen. Dies notabene während des Klimagipfels, an dem gerade die Auswüchse des unkontrollierten und grenzenlosen Wachstums kaum eingedämmt werden konnten.

Klimakonferenz 2017 in Bonn: Greenpeace Aktivisten demonstrieren für mehr Gerechtigkeit beim Kampf gegen die Erderhitzung am Braunkohlekraftwerk in Neurath. Sie fordern mehr Engagement von Industriestaaten wie Deutschland.

Das hat System: Die OECD will ja auch eine Bildungspolitik, die am Output gemessen wird. Allgemeinbildende pädagogische Institutionen sollen flexibilisiert und das Humankapital auf den Markt hin getrimmt werden. Nun sind aber Schülerinnen und Studenten keine Kartoffeln, die sich beliebig zurüsten lassen. Sie sind in erster Linie Menschen und (künftige) Staatsbürger, die eine ganzheitliche Sichtweise einer komplexen, humanen und überlebensfähigen Gesellschaft brauchen. Diese Perspektive können nur aufgeklärte Staaten vermitteln. Das unbeschränkte, stetig steigende Wirtschaftswachstum, dem oft ohne Rücksicht auf Verluste gehuldigt wird, gehört in der Tat auf die internationalen und nationalen Traktandenlisten – allerdings nicht als alleinseligmachender Bezugs- und Angelpunkt, sondern als Ausdruck eines Denkens, dessen Eingeschränktheit Gegenstand einer demokratischen Ausmarchung bleiben muss. Dazu ist die OECD in der heutigen Form schlicht nicht in der Lage. Das Ausblenden dessen, was moderne Staaten ausmacht, darf man mit Fug als Ignoranz bezeichnen, die ausdifferenzierte Bürgergemeinschaften zugunsten der ökonomischen Megatrends schwächt.

Heute lässt man – wenigstens im Westen – sinnbildlich jede «Tartuffe»-Aufführung zu. Der «Theatre Talk» mit Sandro Mattioli kann stattfinden. Es wird einfach der Geldhahn zugedreht. Bildung, Kultur und die öffentliche Hand werden ausgetrocknet. Die Paradise Papers zeigen unter anderem, wie man Geldmangel konstruiert. Umso wichtiger ist der Widerstand der Zivilgesellschaft. Kürzlich verklagte Nestlé, um nur ein bekanntes Beispiel zu nennen, die kleine Gemeinde Osceola Township im US-Bundesstaat Michigan, weil der Konzern noch mehr Wasser abpumpen und mit Gewinn verkaufen will. Mit einer neuen Station hatte Nestlé geplant, über 1500 Liter Wasser pro Minute abzupumpen. Doch die Gemeinde stellte sich dem Giganten in den Weg. Ob sie vor Gericht eine Chance hat, hängt unter anderem davon ab, wie stark der Einfluss der allgemeinen Rechtsprechung und der demokratischen Debatte noch ist. Je mehr Savianos, Mattiolis, Bürgerinitiativen und kritische Gemeinschaften vor Ort mitreden, desto lauter erklingt die politische Sinfonie von unten. Die selbstverschuldete Unmündigkeit, von der Immanuel Kant im 18. Jahrhundert sprach, können wir alle ein Stück weit überwinden. Mit dem Stimmzettel, an Gemeindeversammlungen, in Parteien oder der Allmende und auch am Arbeitsplatz. Die öffentliche Meinung gibt es nicht einfach so – sie muss erarbeitet werden.

Auch das Verschwinden der Insekten ist nicht unumkehrbar. Aber sie werden nicht zurückkommen, wenn alles so bleibt, wie es ist; wenn alle so bleiben, wie sie sich eingerichtet haben. Der Weg zu mehr Demokratie ist möglich. Das können wir von Molière lernen. Und das sagt auch Robert Menasse, der den diesjährigen Preis des Deutschen Buchhandels erhalten hat, in seinem Roman «Die Hauptstadt» (2017): «Wenn Sie zur Zeit der griechischen Sklavenhaltergesellschaft gelebt hätten und man hätte Sie gefragt, ob Sie sich eine Welt ohne Sklaven vorstellen könnten – Sie hätten gesagt: Nein. Nie und nimmer. Sie hätten gesagt, die Sklavenhaltergesellschaft ist die Voraussetzung der Demokratie.»

Markus Waldvogel ist Autor, Philosoph und Leiter der Beratungsfirma Pantaris. Er war viele Jahre Mitarbeiter des WWF Schweiz und hat die Bieler Philosophietage mitbegründet.