Was macht die Wildnis aus uns Menschen? Der Amazonas-Forscher Jeremy Narby stellt eine Gegenfrage: «Was ist Wildnis überhaupt?» Eigentlich gebe es sie nicht – ausser man betrachte die Welt aus einer rein menschlichen Perspektive und degradiere die anderen Lebewesen zu Objekten. Das könnte sich ändern, sagt der Anthropologe.

Von Matthias Wyssmann

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© Christophe Chammartin

Wer die Wildnis wirklich verstehen will, muss hinter die undurchdringlichen Kulissen der Regenwälder Südamerikas blicken und hinter ihre gigantische, uralte Artenvielfalt. Den Pfadfinder dorthin fanden wir im jurassischen Porrentruy. Jeremy Narby, schweizerisch-kanadischer Anthropologe, hatte vor etwa fünfzehn Jahren einiges Aufsehen erregt: Im Buch «Die kosmische Schlange» verglich er Schamanismus mit moderner Molekularbiologie. Seine These: Indem sie die legendäre Urwald-Droge Ayahuasca trinken, können die Schamanen die DNS der Lebewesen sehen und verstehen und damit ihr wundersames Zusammenspiel. Fünf Jahre später publizierte der Jurassier zur «Intelligenzin der Natur», um aufzuräumen mit dem Dogma, in der Natur bestimme der Zufall die Entwicklung.

Derzeit schreibt er an einem Buch zum scheinbar banalen Thema «Was ist eine Pflanze?» und wird auch darin eine Brücke zwischen westlicher Wissenschaft und dem verblüffend gescheiten Animismus der Amazonas-Wälder schlagen.

Irgendwie hatten wir Narbys Wohnung – ein geräumiges Haus voller Bücher und Musikinstrumente – in einem weitläufigen, verwilderten Garten in Erinnerung. Aber Jeremy Narby muss seit meinem letzten Besuch vor vier Jahren die Wiese um sein Haus gezähmt und das Buschwerk diszipliniert haben. Von Wildnis keine Spur. Dennoch gelang es dem Anthropologen, auch in diesem Gespräch den Amazonas-Regenwald in meiner Vorstellung aufleben zu lassen.

Zuerst aber hatten wir etwas zu klären: 

Greenpeace: Jeremy Narby, es gibt kein französisches Wort für das englische «wilderness» oder den deutschen Begriff«Wildnis».

Jeremy Narby: Vielleicht müssen wir das Wort zuerst «auspacken», um es zu verstehen: Das englische «wilderness» bezeichnet den Ort, wo es «wild deer» hat, also wilde Tiere.

Wild-deer-ness?

Genau. Und das deutsche Adjektiv «wild» hat meiner Meinung nach dieselbe Wurzel wie «Wald». Auch das französische «sauvage» für «wild» leitet sich vom lateinischen selva, Wald, ab. Und der Wald beginnt dort, wo die Kultur – also die Sphäre des Menschen – aufhört. Der westliche Mensch hat sich seit jeher gegen die Natur abgegrenzt. Schauen Sie im Wörterbuch nach: Die beiden Begriffe schliessen sich aus. «Natur» ist, was nicht von Menschen gemacht ist.

Für die Ashaninka-Indianer, bei und mit denen Sie seit 25 Jahren arbeiten, sieht das ganz anders aus, nehme ich an?

Sie ziehen diese Grenze zwischen Menschen, Tieren und Pflanzen nicht. Diese Grenze besteht nur im so genannt zivilisierten Denken.

Was haben die Ashaninka für einen Begriff von «Wildnis»? Davon, was nicht menschlich ist?

Danach gefragt, würden sie antworten: «No tenemos», das haben wir nicht. Ich habe sie gefragt, ob es Orte im Wald gebe, wo Menschen nie hingehen; da haben sie lange geschwiegen.

Was sagen sie denn?

Sie sagen: «Pflanzen und Tiere sind Personen. Sie sind wie wir, sie sind Ashaninka wie wir, Leute wie wir.»

Für die Amazonas-Indianer gibt es diese zweigetrennten Sphären Mensch und Natur also nicht?

Sie sind Animisten. Und Animismus beruht auf zwei Überzeugungen: Man anerkennt die Artenverwandtheit aller Lebewesen. Und man begreift auch nichtmenschliche Wesen als Personen. Deshalb gibt es im Amazonas keinen Begriff für Wildnis.

Pflanzen und Tiere als Personen: Wie muss man das verstehen?

Eine Person ist, wer kommunizieren kann, lernt und einen eigenen Blickwinkel hat. Eine Schneeflocke hat keinen eigenen Blickwinkel. Aber der Jaguar hat einen eigenen Blickwinkel oder der Catalpa-Baum da draussen vor dem Fenster: Er will wachsen und gedeihen. Sogar ein Grashalm muss, wenn er so vor sich hin grashalmt, Dinge wahrnehmen, wissen, wie sich seine Nachbarn verhalten, wo er Wasser findet, welches Licht für ihn das Beste ist. Diese Informationen muss er in Entscheidungen umsetzen. So handeln Personen.

Die Wildnis steckt also voller Personen unterschiedlichster Natur?

Ja. Und das bedeutet, dass die Wildnis voller Kultur ist. Pflanzen und Tiere sind Leute.
Sie haben alle ihre eigenen Kulturen. Ein solches Verständnis von Regenwald, Wildnis und Natur wäre natürlich ein gewaltiges Hindernis, wo immer es darum geht, natürliche Ressourcen systematisch auszubeuten.

Indem wir aber alles Leben, das nicht menschlich ist, entpersonifizieren, fällt es uns leichter, es auszunutzen und zu missbrauchen?

Genau.

Und die indigenen Bewohner des Waldes enteignet man, indem man sie zu «Wilden» erklärt.

Hat nicht Bruce Chatwin geschrieben, dass man jemanden erst entmenschlichen muss, bevor man ihn umbringen kann?

Das Konzept «Wildnis» kommt also jenen gelegen, die sie plündern wollen?

Auf jeden Fall passt «Wildnis» zu einer sogenannt «humanistischen» Gesellschaft, die das Menschliche ins Zentrum stellt und alles andere zu Objekten degradiert.

Kann man sagen, Kultur sei dort, wo der Mensch seine eigenen Regeln macht?

So könnte man menschliche Kultur wohl definieren.

Dann wäre die Wildnis ein Ort, wo diese Regeln nicht gelten. Was für gewisse «zivilisierte» Leute natürlich attraktiv ist. Sie lassen de Gesetze hinter sich und werden unter Umständen zu Bestien.

Da muss ich Ihnen widersprechen. Sie werden keine Tiere finden, die sich verhalten wie die spanischen Eroberer im 16. Jahrhundert. In massivem Ausmass zu morden – das ist nichts, was Tiere tun. Tiere sind eben gerade keine «Bestien».

Wie aber verändert der «Dschungel» den Europäer?

Es geht wirklich eher darum, was der Europäer aus der Natur und seinen indigenen Bewohnern macht. Tiere und Pflanzen macht er zu seelenlosen Objekten und die Indianer des Regenwaldes entmenschlicht er, um ihnen ihre Lebensgrundlagen wegnehmen zu können.

Er beraubt sie so ihrer moralischen Rechte und kann mit ihnen machen, was er will.

Für die Moral hatten die Conquistadores die Missionare, in der einen Hand die Bibel, in der anderen das Schwert. Wobei, machen wir uns nichts vor: Wer den Regenwald ausbeutet und Indianer umbringt, weiss sehr genau, worum es ihm geht. Um Reichtum, Gold, Macht und Dominanz. Um nichts anderes. Wenn die Spanier gefragt wurden, ob es eine moralische Rechtfertigung für das Morden gebe, sagten sie: «Frag den Kerl mit der Bibel. Der wird’s dir erklären.»

Und heute? Können sich jene, die den Regenwald abholzen, auf irgendeine Moral berufen?

Die heute weltweit vorherrschende. Nehmen Sie zum Beispiel China. Dort hat die Kommunistische Partei vor ein paar Jahren ein neues Motto ausgerufen: «Es ist glorios, sich zu bereichern.» Indviduen, die reich werden, seien gut für China, hiess es. Die Ironie dabei: Wenn reinste kapitalistische Lehre aus dem Mund der Kommunistischen Partei kommt, dann wissen wir, die Welt ist in Schwierigkeiten … Ich bin kein Spezialist in der Sache, aber ich habe das Gefühl, so lässt sich die Philosophie unserer Zeit zusammenfassen: Reich werden ist glorios. Dem hält kein Regenwald stand.

«Für das grössere Wohl» heisst es bei Harry Potter. Dafür wollen schwarzen Magier die ganze Welt unterwerfen.

Ich halte nichts vom Konzept der Superbösen, welche die Strippen ziehen. Ob bei der Ankurbelung der chinesischen Wirtschaft oder der Zerstörung des Urwalds im Amazonas – beidenorts geht es nicht um das Böse, sondern um Gier und Dummheit. Ich glaube, die Menschen wissen über diese Mechanismen noch nicht genug. Deshalb schreibe ich Bücher. Ich hoffe auf Einsicht. Darauf arbeite ich hin.

Glauben Sie ernsthaft, dass der Animismus der heutigen rationalen Weltordnung etwas entgegenzustellen hat?

Wenn wir davon ausgehen, dass die Natur bloss eine Ansammlung von Objekten ist, fehlt es uns auf grausame Weise an Lebenssinn. Wenn wir mit der Natur wieder in Verbindung treten wollen, bieten Schamanismus und Animismus gute Möglichkeiten. Immerhin fangen wir allmählich an zu verstehen, dass wir uns von der Natur abgekoppelt haben und dass das eines unserer grössten Probleme ist. Auch die westlichen Naturwissenschaften zeigen uns auf, wie eng das Schicksal aller Lebensformen – Menschen, Pflanzen, Tiere – miteinander verknüpft ist. Wir müssen uns der Natur wieder annähern. Aber ein Humanismus, der nur die menschliche Perspektive ins Zentrum der Welt stellt, wird das nicht hinkriegen.

Warum nicht?

Ich bin als Humanist im Sinne von Aufklärung und Vernunft erzogen und ausgebildet worden. Als mir die Ashaninka zum ersten Mal erzählten, dass für sie auch Pflanzen Personen sind, empfand ich Mitleid mit ihnen. Mittlerweile denke ich anders: Wir verdanken dem Humanismus viele spektakuläre Errungenschaften, doch für die Natur waren die 300 Jahre Aufklärung und Vernunft ein Höllentrip.

Wir werden Leute wohl bald nicht mehr auslachen, die Bäume umarmen. Schliesslich anerkennen sie die Bäume als Geschwister.

Das ist gut möglich. Nur: Bäume zu umarmen hat seine Grenzen. Es müsste darum gehen, dass wir die Bäumein unserem Bewusstsein umarmen und ein ganz neues Verständnisfür die Natur entwickeln. Trotz immer grösserem Wissen hat es die moderne Gesellschaft bisher nicht geschafft, diese Denkweise zu integrieren.

Das könnte sich aber bald ändern?

Unsere Kultur ist heute so fortgeschritten, dass wir erkennen können, dass diese zerstörerische Denkweise ihre Grenzen hat. Das konnte keine andere Kultur vor uns. Das ist eine Chance. Da eröffnet sich unerschlossenes Territorium. Früher war es fast undenkbar, dass wir auch nur ein Gespräch zu diesem Thema führen. Heute reden wir davon, dass es durchaus sinnvoll ist, Bäume zu umarmen. Und vielleicht sogar Grashalme!