Zurzeit befinden sich 28 Arktisschützerinnen und Arktisschützer sowie zwei Video- und Fotojournalisten des Greenpeace-Schiffes Arctic Sunrise in Murmansk (Nordwestrussland) in Untersuchungshaft. Sie werden der bandenmässigen Piraterie verdächtigt, seit die russischen Behörden am letzten Donnerstag das Schiff in internationalen Gewässern illegal geentert hatten und die ganze Besatzung gefangen nahmen.
Die Festnahme erfolgte nach einer friedlichen Aktion am Vortag gegen die Bohrinsel Prirazlomnaya, welche dem russischen Energiekonzern Gazprom gehört.
Ihr fragt Euch möglicherweise, was das Team auf der Arctic Sunrise dazu bewogen hat, eine Protestaktion gegen Gazprom zu unternehmen. Nun, die Antwort lautet wie folgt:

1. Prirazlomnaya ist die erste Ölplattform, die im eisbedeckten Teil der Arktis Öl fördern soll

Der russische Staatskonzern Gazprom ist mit einem zehnprozentigen Anteil am Bruttosozialprodukt das grösste Unternehmen Russlands und ist ein zentraler Bestandteil der Pläne von Präsident Wladimir Putin zur Konsolidierung der russischen Stellung als führende Energiemacht. Die Ölförderung in der Arktis spielt in dieser Strategie eine entscheidende Rolle und die Bohrinsel Prirazlomnaya von Gazprom soll als erste überhaupt in den eisbedeckten Wassern nördlich des Polarkreises Ölbohrungen zu kommerziellen Zwecken durchführen. Wenn alles nach den Plänen von Gazprom verläuft, dann wird die 4-Milliarden-Dollar-Ölplattform bereits anfangs 2014 den Weltmarkt beliefern. Sie wäre damit die erste Offshore-Bohrinsel, die Öl aus dem Boden unter den eisbedeckten Wassern der Arktis heraufpumpt.

2. Die Prirazlomnaya ist nicht sicher

Die Bohrinsel Prirazlomnaya besteht unter anderem aus Teilen stillgelegter Nordsee-Bohrinseln und rostete jahrelang in einer Werft in Murmansk vor sich hin. Es handelt sich also nicht um eine Plattform auf dem neusten Stand der Technik. Angesichts der Tatsache, dass sie in der fernen Petschora-See ganzjährig in Betrieb stehen wird, in Gewässern die während zwei Dritteln des Jahres von Eis bedeckt sind und in Temperaturen bis zu minus 50°C, ist es nicht übertrieben, Prirazlomnaya ganz einfach als nicht sicher zu bezeichnen.

Das vorliegende Video besteht aus Aufnahmen, die verschiedene Prirazlomnaya-Arbeiter auf YouTube hochgeladen haben. Sehrerschreckend!

3. Gazprom macht seine Katastrophen-Einsatzpläne nicht öffentlich zugänglich

Der arktische Rat, dem Russland angehört, hat beschlossen, dass alle Katastrophen-Einsatzpläne veröffentlicht werden müssen. Nur anhand solcher Pläne kann die Öffentlichkeit die Risiken einer Ölkatastrophe abschätzen. Trotzdem hat Gazprom nur eine kurze Zusammenfassung ihres Katastrophen-Einsatzplans für Prirazlomnaya öffentlich zugänglich gemacht, während die ausführliche Version nur in den Räumen der Firma selbst und unter strikten Bedingungen eingesehen werden kann. Doch schon aus der Zusammenfassung geht hervor, dass Gazprom bei einem Öl-Unfall im hohen Norden völlig hilflos dastehen würde. Die Firma behauptet, sie schenke vorbeugenden Schutzmassnahmen für die Umwelt ihre höchste Aufmerksamkeit, doch das Worst-Case-Szenario in den offiziellen Plänen rechnet mit einer maximalen Spill-Menge von 10’000 Tonnen Öl (rund 73’000 Fass). Die Deepwater Horizon Katastrophe liess fast 5 Millionen Fass Öl in den Golf von Mexiko laufen und Prirazlomnaya selbst verfügt über ein Lagervolumen von bis zu 650’000 Fass Öl.

4. Ölunfälle sind unvermeidlich

Statistisch gesehen sind Ölunfälle häufig. In der Arktis ist das Risiko eines Unfalls noch grösser. Eiskaltes Wasser, Eisberge und extremes Wetter erschweren die Bohrbedingungen und erhöhen das Risiko. In der Ölindustrie und den entsprechenden staatlichen Agenturen weiss das jeder. Erst kürzlich führten Einheiten der amerikanischen und kanadischen Küstenwachen einen ersten gemeinsamen Offshore-Ölkatastrophen-Testeinsatz in der Nordwestpassage durch. Letztere war, ebenso wie die unter russischer Kontrolle stehende Nordostpassage, bis vor wenigen Jahren das ganze Jahr von Eis bedeckt. Es wurde ein Reinigungseinsatz-Test durchgeführt und der verlief, gelinde gesagt, nicht ganz reibungslos. «Ein System der Küstenwache zum Abschöpfen von Oberflächen-Öl wurde zwar erfolgreich von einem kanadischen Schiff in Stellung gebracht, doch schlechtes Wetter verhinderte gleichzeitig den Einsatz eines vom Staat Alaska zur Verfügung gestelltes Notschleppsystems für grosse Schiffe,» sagte Küstenwache-Sprecher Kip Wadlow gegenüber dem «Alaska Journal of Commerce».

5. Eine ernsthafte Ölverschmutzung in der Arktis liesse sich praktisch nicht rückgängig machen

Dass eine Säuberung ölverschmutzter arktischer Gewässer praktisch unmöglich wäre, ist ausführlich dokumentiert. Die Pew Umwelt-Gruppe untersuchte kürzlich verschiedene Katastropheneinsatzpläne für die Arktis und warnte, «die Ölindustrie ist nicht bereit für die Arktis, die Katastropheneinsatzpläne sind völlig ungenügend». Die Unfall-Szenarien für die Arktis «unterschätzen durchwegs sowohl die Wahrscheinlichkeit wie die Folgen einer Ölkatastrophe», heisst es weiter. Eine Analyse im Auftrag des WWF bezeichnete die Vorschläge der Industrie zur Abschätzung des Ölunfallrisikos in der Arktis als ungenau – «mehr imageneering als engineering» lautete der wenig schmeichelhafte Kommentar der Autoren.

Die Entfernung ausgelaufenen Öls im Eis ist praktisch unmöglich, da herkömmliche Technologien wie Ölsperren in dickem Eis unbrauchbar werden. Die extremen Wetterbedingungen gestalten im Übrigen jegliche Art von Säuberungsarbeiten äusserst schwierig, auch ohne festes Eis im Wasser. Die amerikanische und kanadischen Küstenwachen mussten das bei ihrem Übungseinsatz im vergangenen Monat auf die harte Tour lernen, als sie nur gerade ein System der zum Abschöpfen von Oberflächen-Öl in Stellung bringen konnten, nicht aber das äusserst wichtige Notschleppsystem für grosse Schiffe. Kommandant Admiral Robert Papp von der Küstenwache erklärte vor dem US-Kongress im Jahr 2011, seine Behörde sei für einen BP-ähnlichen Ölunfall in der Arktis nicht gerüstet. «Wenn sich so etwas vor der Nordküste von Alaska ereignet, können wir nichts ausrichten», sagte Papp. «Wir fangen heute bei null an». Greenpeace hat die Entwicklung in den letzten zwei Jahren aufmerksam verfolgt und ist überzeugt, sie sind immer noch am Nullpunkt. Nicht nur das Eis und die extremen Wetterbedingungen machen eine praktisch Säuberung unmöglich, sondern auch der abgelegene Standort. Ein Grossteil des Materials, das bei einer Katastrophe in Prirazlomnaya zum Einsatz käme, ist im Hafen von Murmansk, über 1000 Kilometer entfernt, eingelagert. Es würde Tage dauern, bis ein Katastropheneinsatz auch nur beginnen könnte.

6. Prirazlomnaya befindet sich in unmittelbarer Nähe von Natur- und Wildschutzgebieten

Das Ölfeld von Prirazlomnaya ist umgeben von Nationalpärken und Wildschutzgebieten wie Nenetsky and Vaygach, wo geschützte und bedrohte Tierarten wie das atlantische Walross heimisch sind. Die Kurzversion des Gazprom Katastrophen-Einsatzplans lässt vermuten, dass im Falle eines Unfalls der Lebensraum von Walrossen und Vögeln ebenso in Mitleidenschaft gezogen würde, wie die einheimischen Menschen, die für Fischfang und Jagd auf die Pechora-See angewiesen sind.

7. Russlands Ölunfallbilanz ist beängstigend

Ganze Regionen Russlands sind von ausgelaufenem Öl so stark verschmutzt, dass sich der Alltag für die betroffene Bevölkerung bereits dramatisch geändert hat. Man schätzt, dass in Russland jedes Jahr rund 5 Mio. Tonnen Öl aus beschädigten Bohrlochköpfen, lecken Röhren und anderen Einrichtungen austritt. Die verschmutzten Flüsse Nordrusslands deponieren laut offiziellen Angaben jedes Jahr rund 500’000 Tonnen Öl im arktischen Ozean. Anders gesagt, Russland lässt alle zwei Monate soviel Öl auslaufen wie die Deepwater Horizon bei der Ölpest im Golf von Mexiko.

8. Öl muss im Boden belassen werden, wenn wir die CO2-Verschmutzung eindämmen wollen, die den Klimawandel verursacht

Der Grossteil der bekannten Kohle-, Öl-, und Gasreserven der Erde müssen im Boden belassen werden, wenn wir einen Klimawandel grösseren Ausmasses verhindern wollen, bei dem Teile der Erde unbewohnbar gemacht würden. Oder genauer: Laut Angaben der Internationalen Energie Agentur (IEA) müssen mehr als 60% der gegenwärtig nachgewiesenen Öl-Reserven im Boden bleiben, wenn wir die kritische 2°C-Grenze der Klimaerwärmung nicht überschreiten wollen. In anderen Worten, die Ausbeutung der arktischen Ölvorkommen – sowohl teuer wie praktisch ohne Erfahrungswerte – ist mit der weltweiten Mobilisierung gegen eine Klimaerwärmung grösseren Umfangs nicht zu vereinbaren.

9. Die Arktis ist empfindlich

Die Ausdehnung der arktischen Meereisdecke ist seit 1979 um 30 Prozent zurückgegangen. Weil gleichzeitig auch das verbleibende Eis bedeutend dünner geworden ist, beläuft sich der Schwund der arktischen Meereismasse im Sommer bereits auf 75 Prozent. Diese Folgen des Klimawandels haben die arktischen Ökosysteme einer enormen Belastung ausgesetzt. Die Arktis ist ein einmaliges und empfindliches Ökosystem, das verschiedene Meersäuger und sonstige Arten beheimatet, die sonst nirgendwo oder kaum vorkommen, zum Beispiel Eisbär, Narwal und Walross. Die Arktis ist auf Schutz angewiesen, um mit den bisherigen Folgen des Klimawandels fertig zu werden, und kann dem zusätzlichen Druck von Ölproduktion und Ölkatastrophen nicht standhalten.

10. Wenn Staaten und Unternehmen versagen, dann übernimmt die Zivilgesellschaft die Führung

Wenn weder Firmen noch Politiker gewillt oder in der Lage sind, ihre Verantwortung gegenüber der Gesellschaft wahrzunehmen, dann müssen die Menschen selbst zum rechten sehen und Mut zeigen. Wir müssen zusammenstehen und solchen Übeltaten einen Riegel schieben. Dies ist unsere demokratische Herausforderung angesichts desFehlverhaltens der Regierungen in aller Welt. Mehr als vier Millionen Menschen sind der Bewegung zur Rettung der Arktis beigetreten und als Sini Saarela und Marco Weber die Prirazlomnaya bestiegen, um dieses Umweltverbrechen zu stoppen, dann taten sie dies mit Unterstützung von Millionen von Menschen rund um die Erde. Gemeinsam stellen wir uns gegen die Bedrohung von Wildtieren, Natur und Klima, die mit der Ausbeutung der Erdölvorkommen in der Arktis einhergeht. Es ist unsere Pflicht, uns der Ölindustrie und Konzerne wie Gazprom in den Weg zu stellen, auch wenn diese sehr viel Macht haben.

Dienstag, 1. Oktober 2013

© Denis Sinyakov / Greenpeace
Die Ölplattform «Prirazlomnaya» von Gazprom