Autor Frank Drieschner hat kein Auto und repariert Fahrräder für Flüchtlinge. Er hat keine Lust, sich für diesen Lebensstil als «Gutmensch» mit Dreck bewerfen zu lassen.

Beim letzten Mal, als ich das Wort Gutmenschen gehört habe, waren Radfahrer gemeint. Das war in einer öffentlichen Diskussionsveranstaltung über die Umgestaltung eines besonders unfallträchtigen Kreisverkehrs, eine Gruppe von Zwischenrufern empörte sich über den Vorschlag, dort Tempo 30 einzuführen.

«Never ever! Gilt das auch für Radfahrer? Für die doch nicht! Das sind doch Gutmenschen!»

Beleidigung ist kein Argument

Man sollte einem Zwischenrufer nicht vorhalten, dass er seine Argumentation verkürzt vorträgt. Aber wie man es dreht und wendet: Diese Leute meinten, der Gesamtheit der Fahrradfahrer unerfreuliche Charaktereigenschaften zuschreiben zu können. Ist das eine Diskussion wert?

Ich finde nicht. Das Wort Gutmensch ist ein Kampfbegriff, er dient allein dazu, Anstand und Rücksichtnahme verächtlich zu machen. Radzufahren beispielsweise ist in vieler Hinsicht gut, und weil sich das ernsthaft nicht bestreiten lässt, beschimpft der Fahrradfeind den Radfahrer als Gutmensch. Wer so tut, als sei diese Beleidigung ein Argument, das eine ernsthafte Prüfung erfordert, der kommt dem Gutmenschenverächter weiter entgegen, als der es verdient.

Am 17. Mai 2017 erschien eine Titelgeschichte in der ZEIT, die das Für und Wider des Gutmenschentums erörterte. «Warum sie nerven – und man sie doch braucht», so steht es auf Seite 1. Das klingt hübsch ausgewogen, suggeriert aber auch: Gutmenschen gehören nicht zu uns.

Wutausbruch ist eine Form von Schuldabwehr

Mir persönlich gefällt das nicht sonderlich. Einerseits gehöre ich nämlich durchaus zur ZEIT, andererseits passe ich auch sehr gut ins Feindbild der Gutmenschenverächter. Ich wohne in einer Ökosiedlung, ich habe kein Auto, ich beziehe Lebensmittel von einem nahe gelegenen Biohof und repariere zusammen mit einigen Nachbarn in unserer gemeinsamen Werkstatt Fahrräder für Flüchtlinge. All das tue ich gerne und betrachte es schon darum nicht als moralische Leistung. Ich habe allerdings auch keine Lust, mich deshalb mit Dreck bewerfen zu lassen.

Im Internet hat ein anonymer Kritiker meines Lebensstils mal über mich behauptet, ich wohnte in einer Siedlung ohne Autos, sei folglich linksradikal und demnach am Wohlergehen anderer nicht interessiert. Über seine Motive muss man nicht lange rätseln. In der Nähe meiner Wohnung ist eine Unterkunft für Flüchtlinge gebaut worden, ich habe mich dafür eingesetzt, Anwohner, die den Bau verhindern wollten, haben mir das übel genommen. Und weil es nicht direkt vorwerfbar ist, Flüchtlinge in der eigenen Nachbarschaft unterbringen zu wollen, musste ich halt linksradikal und empathielos sein.

SUV-Fahren, Flugreisen und Billigfleischkonsum erscheinen als mutige Akte des Widerstands

Auch im Fall der oben erwähnten Fahrradfeinde sind ihre Motive offensichtlich. An dem Kreisverkehr, um den es in der Diskussion ging, werden Fahrradfahrer regelmäßig Opfer von Verkehrsunfällen, die regelmäßig von Autofahrern verursacht werden. Die Zwischenrufer maßten sich an, für die Autofahrer zu sprechen, und lehnten alle Versuche ab, den Kreisel zu entschärfen – ist es weit hergeholt, in dem kollektiven Wutausbruch gegen Andersfahrende eine Form der Schuldabwehr zu sehen?

Dies Grundmuster findet sich anderenorts wieder. Übermotorisierte Autos, Flugreisen, Konsum von Fleisch aus Massentierhaltung – in vieler Hinsicht ist der Lebensstil einer großen Mehrheit ein Hohn für Werte wie Umwelt-, Tier- und Klimaschutz, zu denen sich diese Mehrheit aber gern bekennt, wenn sie nicht gerade ins Auto steigt, am Fleischtresen steht oder am Flugschalter. Wer sich von diesem Lebensstil abwendet, stellt sich außerhalb dieser Solidargemeinschaft von Normverächtern. Und weil es gut begründbar ist, genau das zu tun, muss er ausgegrenzt werden: als Gutmensch.

«Sie Gutmensch!»

Denn auch das gehört zu den Gebrauchsregeln dieser speziellen Beleidigung: Man wirft sie nicht einem Gegenüber ins Gesicht, das würde Rückgrat erfordern und die Bereitschaft, eine Debatte zu führen, die der Gutmenschenverächter scheut. «Sie Gutmensch!» Mal gehört? Eben. Diese besondere Beschimpfung dient allein der Verständigung über Dritte. Sie schließt die Reihen der Normverächter und konstituiert eine Gemeinschaft, die sich einig ist, die Argumente der als Gutmenschen Ausgegrenzten nicht zur Kenntnis zu nehmen.

Wie bitte, das sei doch sehr ungerecht? Gerne führe man jede Debatte? Aber es sei doch nun einmal unbestreitbar, dass Gutmenschen Idioten seien, ahnungslos, selbstgerecht, überheblich?

Von mir aus kann man darüber sehr gerne streiten, mir liegt nicht im mindesten daran, Ahnungslosigkeit, Selbstgerechtigkeit oder Überheblichkeit zu verteidigen. Nur müsste der Gutmenschenverächter dann Argumente vortragen. Und zu einer Argumentation, die diese Bezeichnung verdient, trägt eine Beleidigung ohne sachlichen Gehalt nichts bei.

Erbärmliche Weinerlichkeit

Besonders erbärmlich an der gängigen Gutmenschenkritik finde ich ihre Weinerlichkeit. Es reicht ihren Vertretern nicht, im Namen einer überwältigenden Mehrheit eine Minderheit verächtlich zu machen, sie tun das auch noch im Gestus der Verfolgten. «Todesstrafe für BMW-Fahrer», gegen diese Art von Hetzjagd behaupten die Gutmenschenverächter sich wehren zu müssen. So erscheinen SUV-Fahren, Flugreisen und Billigfleischkonsum am Ende als mutige Akte des Widerstands. Man muss schon ziemlich verzweifelt sein, um das plausibel zu finden.

Wenn ich missionarische Neigungen hätte, wie wir Gutmenschen sie ja angeblich haben, dann müsste ich diese Chance wohl ergreifen. «Sie müssen so nicht leben», «Es gibt Menschen, die ohne SUV sehr glücklich sind» … etwas in dieser Art müsste ich wohl sagen.

Ich habe aber keine missionarischen Neigungen. Wer die Rücksichtslosigkeit der eigenen Lebensweise nur erträgt, indem er Anderslebende verächtlich macht, der hat es, finde ich, nicht besser verdient.

Frank Drieschner arbeitet für das Ressort Hamburg bei der ZEIT. Die ganze Titelgeschichte zum Thema Gutmenschen lesen Sie in der ZEIT Nr. 21 vom 18.05.2017.