In den nächsten Monaten schalten wir in loser Folge die Lieblingsartikel unserer Redaktions-mitglieder nochmals auf. Diese haben sie aus den meistgelesenen Online-Stories der letzten Jahre ausgesucht. Heute der Favorit unserer Web Managerin Angela Gehring, der von drei Menschen erzählt, die ihr Leben dem Minimalismus gewidmet haben.

Es gibt Wörter, die sagen so viel über unsere Zeit, wie es sonst nur Romane oder Filme vermögen. «Stehrumsel» ist so ein Wort. Wer kennt sie nicht, die Stehrumsel, die unnützen Geschenke, die lieb gemeint, aber nie gewollt waren; die Freizeitgeräte, bei deren Kauf viel guter Wille im Spiel war, die jedoch unbenutzt liegen blieben; die elektronischen Gadgets, die von einer neuen Generation abgelöst wurden; das Spielzeug, das die Kleinen kurz begeisterte, ehe sie es liegen liessen. Wir ziehen fort aus dem Elternhaus, richten unsere erste Wohnung ein, legen die Habseligkeiten mit denjenigen unserer Partnerin oder des Partners zusammen, gründen eine Familie – und bei jedem Schritt kommen noch mehr Stehrumsel hinzu. Manchmal füllen wir unsere Einfamilienhäuser, unsere Neubauwohnungen und die gemütlichen Altbauten dermassen mit Stehrumseln, dass wir darin fast ersticken. Schätzungen zufolge nennt der Durchschnittseuropäer 10 000 Gegenstände sein Eigen. Ich habe bei mir zuhause nachgezählt: Allein in der Küche komme ich auf über 500. Die wenigsten Menschen finden das gut, denn sie merken: Besitz macht immobil, bequem und hält einen davon ab, zu tun, was man schon immer wollte. Vielleicht haben deshalb Geschichten vom Loslassen, von Askese, von einem aufs Wesentliche reduzierten Leben derzeit Hochkonjunktur von Finnland bis in die USA. Sie füllen Auditorien und liefern Stoff für eine Reihe neuer Bücher und Filme.

In «My Stuff», dem Erstling des jungen finnischen Filmemachers Petri Luukkainen, der auch die Hauptrolle spielt, steht dieser in der Eingangsszene nackt in einer leergeräumten Wohnung. Mit einer Zeitung aus einem Container bedeckt er seine Scham und rennt durchs verschneite nächtliche Helsinki. Sein Ziel: Ein Lagerhaus, aus dem er sich einen Mantel holt, um sich vor der Kälte zu schützen und ihn als Schlafsack auf dem Parkett der Wohnung zu benutzen. Luukkainen hat sich von seinem Besitz getrennt und alles in besagtem Lager eingestellt. Sein Film handelt davon, wie er sich während eines Jahres täglich einen Gegenstand zurückholt. Es ist, als würde er sein Leben auf «Start» zurückstellen und in einem immateriellen Zustand wiedergeboren.

Warum schwören junge Menschen – darunter Filmemacher, Autoren und Hunderte von Bloggern – gerade jetzt ihren Stehrumseln ab? Wie kommt es, dass zwei junge amerikanische Pioniere der Minimalismus-Bewegung auf ihrem Blog theminimalists.com jährlich zwei Millionen Klicks verzeichnen, mit einer Roadshow durch die USA touren und über TedX-Konferenzen Zuschauerinnen und Nachahmer auf der ganzen Welt finden? All das mit einer einfachen Botschaft: Löse dich von deinem Besitz und du wirst frei und glücklich sein.

Umziehen mit Handgepäck

Wir fahren nach Berlin. Wo sonst in Europa geben sich mehr junge Menschen dem «Sich-selbst-Ausprobieren» hin? Doch bevor wir Lisa besuchen, eine 26-jährige Minimalismus-Bloggerin und Verpackungsverweigerin, wollen wir Joachim Klöckner treffen. Er ist 65 Jahre alt und so etwas wie der Urvater der Minimalismus-Bewegung im deutschsprachigen Raum – nur dass er diesen Titel nie für sich beanspruchen würde. Er hat uns nach Berlin-Friedenau gelotst, in eine aufgeräumte, gutbürgerliche Ecke der Grossstadt. Ich solle bei «Atelier» klingeln, hat er mir in einem Mail mitgeteilt, das als Signatur den Satz trug: «Alter ist die Zunahme der Dinge, über die ich lachen kann.» Er begrüsst uns fröhlich und mit festem Händedruck. Falten unterlegen seine neugierigen grauen Augen – Augen, wie man sie bei Menschen findet, die am Leben gelitten haben und am Leid gewachsen sind. Mit seinen weissen Leinenhosen, dem weissen Pulli und dem blassgelben Foulard hat er etwas von einem Yogi. Seine Kluft ist jedoch nicht spiritueller, sondern praktischer Natur: Wenn man nicht mehr als zwei Hosen, fünf Hemden, einige Shirts, etwas Unterwäsche und eine Jacke gegen den Regen sowie eine gegen die Kälte besitzt, fällt die Kombination mit Weiss einfach leichter.

Joachim wohnt seit vergangenem August im Malatelier eines Freundes. Der schöne Parkettboden in der grosszügigen Altbauwohnung ist überstellt mit Arbeitsmaterial: Leinwände, Leim, Farben, Birkenstämme, getrocknete Baumblätter und Rosen. Der lange Gang mündet in ein helles Zimmer von etwas mehr als zehn Quadratmetern Fläche – Joachims Reich. Möbel hat er keine. In der Ecke gegenüber der Balkontür hängt eine weisse Hängematte, in der Joachim sinniert, surft und schläft. Ein Körbchen mit Nussmischung, Müsli, zwei Bananen, Orangen und zwei Flaschen Wasser sowie ein gelber Rucksack mit einem nicht mehr als 20 Zentimeter hohen Kleiderstapel vervollständigen die Einrichtung. Viel mehr braucht der Minimalist nicht zum Leben.

Seit 15 Jahren zieht Joachim nur noch mit Handgepäck um. Er hat kein Telefon, kein Auto, macht viel zu Fuss, ist mit dem Velo oder mit der U-Bahn unterwegs. Interkontinentalflüge sind passé, deshalb hat er seinen Reisepass demonstrativ zerschnitten; bei innereuropäischen Flü­gen ist er sich noch nicht sicher. Aufgewachsen ist er in einem 200-Seelen-Dorf in Nordhessen, wo er mit seinem Vater eine Maschinenbaufirma leitete und anschliessend als Energieberater arbeitete. Zieht es die meisten Menschen im Alter aufs Land, so entschied Joachim, seinen Ruhestand in der Stadt zu verbringen. «Den Geschmack von europäischen Grossstädten kosten», das interessiert ihn zurzeit. Er sucht das Neue, das Inspirierende, den Austausch – wo könnte er mehr davon finden als in einer Stadt wie Berlin? Seit seiner Pensionierung ist er Stadtwanderer, schaut sich neue Viertel an, lernt in Kaffees Autorinnen kennen, deren Bü­cher er bespricht, trifft sich mit jungen, kreativen Köpfen und besucht «Vision Talks», wo neue Unternehmensideen präsentiert werden.

Joachim reichen monatlich 400 Euro

Es gab Zeiten, da besass Klöckner einen Porsche und mehrere Motorräder. Er fuhr bei Rallyes mit und lebte mit Frau und Kind im eigenen Haus. «Zeug gehortet» habe er aber nie, erzählt er, «schon als Kind bin ich genügsam gewesen.» Seit 30 Jahren nimmt Joachim keine Geschenke mehr an. «Wenn mir jemand Gutes tun will, soll er mich zum Essen einladen oder mir eine Massage schenken.» Vor 15 Jahren hat er seinen Besitz auf Rucksackvolumen minimiert. Wie reagierte sein Umfeld? Joachim antwortet mit der Geschichte eines Freundes: «Der fuhr zu Ikea zum Einkaufen. Dort füllte er zwei Einkaufswagen mit Zeug. Plötzlich musste er an mich denken und fragte sich: Was würde Joachim sagen? Schliesslich liess er die beiden prall gefüllten Wagen vor der Kasse stehen.» Die meisten Menschen hätten das Bedürfnis nach Klarheit und Leichtigkeit, ist Joachim überzeugt. «Doch sie wissen nicht, wo beginnen. Wenn sie dann versuchen, ihren Ballast loszuwerden, merken sie, wie anstrengend das ist.» Es sei nämlich so, dass jedes Stehrumsel seinem Besitzer gleich drei Mal Energie abverlange: Beim Anschaffen, bei der Wartung und Pflege und schliesslich beim Loswerden.

Für Joachim ist Minimalismus aber mehr als nur Entrümpeln: Er sieht darin auch einen Weg zu mehr Autonomie. «Ich gehe gerne in Designläden und schaue mir schöne Möbel und Kleider an. Aber ich brauche sie nicht – das ist für mich wahre Freiheit.» Zudem sieht er darin ein gutes Mittel gegen die Abstiegsängste der Mittelschicht. Auswüchse davon zeigen just während unseres Treffens die fremdenfeindlichen Demonstrationen der Patriotischen Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes (Pegida) in Dresden. «Die Armutsgrenze in Deutschland liegt bei rund 1500 Euro. Im Schnitt war ich demnach die letzten 35 Jahre arm – und dabei ging’s mir blendend.» Aktuell lebt Joachim mit einer Rente von etwas über 400 Euro. Das reiche für sein Müsli am Morgen, um am Mittag oder am Abend irgendwo etwas Kleines zu essen und um seinem Freund eine bescheidene Miete zu zahlen. «Armut ist bei uns vor allem eine Vorstellung, ein Konzept im Kopf. Wer weniger hat, hat auch weniger Angst.»

Etwas gibt es trotzdem, auf das Joachim nicht verzichten möchte: sein iPad. Es ist sein Arbeitsgerät und sein Tor zur Welt. Hunderte von Büchern und über tausend Songs hat er darauf stets zur Hand. Er nutzt es zum Fotografieren und zum Scannen – als Schlüssel zum papierlosen Leben. Er liest täglich ausgedehnt «Die Zeit» und den «Spiegel». Über Mails, Facebook und Twitter vernetzt er sich und hält Kontakt zu Gleichgesinnten. Auf meine Frage, ob das Tablet und das Internet die Grundlage für seinen Lebensstil seien, zögert er: «Schwierig zu sagen. Das Tablet ist sicher ein Teil dieses Lebensstils. Wenn ich es mir wegdenke, wird mir ein wenig mulmig.»

Wie Gandhi und Siddhartha

Konsumsoziologen weisen darauf hin, dass Phänomene wie der aktuelle Minimalismus nicht neu sind. Geschichten vom Loslassen und von einem asketischen Leben haben seit je grosse Anziehungskraft. Man denke nur an Mahatma Gandhi, den Weisen, der stets in weisses Leinen gehüllt die Versöhnung proklamierte. Auch erinnere ich mich gut an «Siddhartha» von Hermann Hesse. Als 21-Jähriger verschlang ich das Buch während meiner ersten Reise durch Indien. Dabei hatte ich mich ein wenig wie der junge Brahmane Siddhartha gefühlt, Hesses Suchender, der aus der Stadt flieht, dem Ort von Hochmut, Pomp und Dekadenz, und zu einem anspruchslosen Leben am Fluss findet. Mein Pomp war die Schweiz gewesen, mein Fluss ein Rucksack, in den ich alles eingepackt hatte, was ich während der nächsten Monate brauchen würde – also fast nichts. Befreiend hatte es sich angefühlt, erhaben und sehr romantisch.

Ein halbes Jahrhundert nach Hesses Weltroman betraten die Hippies und die 68er-Bewegung die gesellschaftliche Bühne. Sie gründeten Kommunen auf Hügeln und brachen eine Lanze für die Selbstversorgung. Alles schon mal da gewesen? Ja und nein. Denn es gibt einen bedeutenden Unterschied zwischen den Minimalisten des 21. Jahrhunderts und ihren Vorgängern: Sie ziehen sich nicht mehr zurück, koppeln sich nicht mehr ab und geben sich nicht mehr der Illusion eines erfüllten Lebens als Selbstversorger hin. Sie leben meist in der Stadt, nehmen am Stadtleben teil und sind über die sozialen Medien hervorragend vernetzt. Von den meisten Minimalismus-Bloggern in Deutschland und der Schweiz, die ich für diese Reportage per E-Mail anschrieb, habe ich innert Stunden Antwort bekommen – auch am Sonntag. Sie sind kommunikativ, erzählen bereitwillig von ihrem Leben als Minimalisten und ihren Blog-Aktivitäten. Einige sind im IT-Bereich tätig, Webdesigner oder Second-Level-Supporter. Zu persönlichen Treffen sind jedoch die meisten nicht bereit – «zu viele Projekte am Laufen», «erst gerade ein Unternehmen gegründet» oder «bin leider viel im Ausland in nächster Zeit», heisst es in den Absagen. Nach einem zurückgezogenen Leben in der Blockhütte hört sich das nicht an.

33 Teile im Schrank

Lisa, 26: In ihrer Küche lagert die Studentin für Medieninformatik alles in Gläsern und Stoffbeuteln. © Anne Gabriel-Jürgens

Lisa gehört zu dieser neuen Generation von Minimalistinnen. Sie wacht morgens mit dem Licht ihres Smartphones auf, liest noch im Bett ihre Mails und Posts. Tagsüber ist sie fürs Studium in Medieninformatik dauernd online und am Abend schreibt sie zuhause Beiträge für ihren Minimalismus-Blog. Inzwischen wird es aber auch Lisa zu viel. Ihr Internetabo läuft aus; sie hat es nicht erneuert und sagt: «Ich experimentiere gern und probiere Dinge einfach mal aus.» Wir besuchen Lisa in Berlin-Wedding, einem ruhigen Viertel. Lisas Einzimmerwohnung ist hell, aufgeräumt und wirkt ein wenig wie aus einem dieser Möbelkataloge, wo nichts rumliegt, was die Ruhe des Ensembles stören könnte. Und still ist es: Kein Radio, keine Musik. Im Wohnzimmer steht ein weisser Tisch mit Stuhl, darauf ein Laptop. In einer Ecke stapeln sich fünf Kartonkisten. «Ich bin immer noch am Reduzieren», erklärt Lisa. Das Zeug in den Kisten — Pullis, Bettwäsche, Magazine und Frischhaltefolie – brauche sie nicht mehr. Sie stellt es einzeln oder als Paket auf Ebay, meist kostenlos. Hauptsache, jemand holt das Zeug ab.

Die 26-Jährige begann vor drei Jahren beim Umzug in diese Wohnung, ihren Gerümpel auszumisten. Inspiriert durch erste Minimalismus-Blogs in den USA, stellte sie sich die Frage: Was brauche ich wirklich zum Leben und was schleppe ich nur mit mir rum? «Ich hatte früher zwei Schränke voll Klamotten», erzählt Lisa und öffnet ihren Spiegelschrank: Heute hat alles in zwei Schubladen und auf einer Kleiderstange Platz. 33 Teile – ohne Sportkleidung und Unterwäsche – hat sie kürzlich gezählt. Seither brauche sie am Morgen viel weniger Zeit, um sich anzuziehen. «Dieser Lebensstil gibt mir sehr viel Ruhe», sagt sie. Das sei vor allem in der Grossstadt wichtig, wo man ständig abgelenkt werde. Minimalismus bedeute für sie nicht, nichts mehr zu besitzen. Sondern? «Dass man sich besser aufs Wesentliche konzentrieren kann.» Die Zeit, die Lisa früher mit Shoppen verbrachte, nutzt sie heute bewusst fürs Bloggen, zum Stricken oder fürs Studium. Und weil sie ausser Lebensmitteln praktisch nichts mehr einkauft, hat auch der finanzielle Druck abgenommen. Ein halbes Jahr lang hat sie neben dem Studium überhaupt nicht mehr gejobbt, weil das Ersparte länger reichte.

Anfang Jahr hat sich Lisa einem neuen Ex­periment verschrieben: Sie will ein müllfreies Leben führen. «Minimalismus heisst für mich auch, weniger Müll zu produzieren.» Zweimal pro Woche bloggt sie über ihre Erfahrungen bei der Suche nach Alternativen zu abgepackten Nüssen, Wegwerfzahnbürsten und Shampoos in Plastikflaschen. Der Gang durch Drogerien und Bioläden, wo noch der letzte Lippenbalsam in eine Hülle aus Plastik eingeschweisst ist, habe sie deprimiert, erzählt Lisa. Sie führt uns in ihre Küche. Auf einem Wandbrett aus Holz liegen Bananen, Kiwis, dazu Erd- und Baumnüsse in Einmachgläsern. Neben dem Herd sind drei grosse Zwiebeln aufgereiht, daneben Vollkornnudeln und Pilze in einem Stoffbeutel, den sie selbst genäht hat. Lisa holt unter dem Spülbecken einen Korb mit Gläsern hervor. Eines ist mit Waschsoda gefüllt – eine Alternative zu Waschmitteln in Kunststoffgebinden. Zum Putzen benutzt sie Natron und Zitronensäure, beides lässt sich offen kaufen.

Aber was ist mit dem Essen? Wie verpflegt man sich, ohne Abfall zu produzieren – vor allem wenn man so viel unterwegs ist wie viele aus Lisas Generation? Ich denke an den Zug um 7 Uhr morgens von Basel nach Zürich, wo man die Pendler ohne «Coffee to go» an einer Hand abzählen kann, an die Abfallkübel, die sich innert Minuten mit Kartonbechern füllen. Lisa trinkt ihren Kaffee am Morgen zuhause und sonst nur aus Tassen. Fürs Mittagessen füllt sie Bratkartoffeln vom Vorabend in ihren gläsernen Thermopot oder nimmt ein Stück selbstgebackenes Brot mit. An der Uni holt sie sich für weniger als einen Euro Salat dazu. Sie war schon als Kind Vegetarierin, seit drei Jahren isst sie «zu 95 Prozent vegan, das macht es bedeutend einfacher, keinen Müll zu produzieren». Doch ist das nicht alles wahnsinnig anstrengend, spassbremsig und genussfeindlich? «Nein», ist Lisa überzeugt. Auf Make-up zum Beispiel will sie nicht verzichten. Sie zehrt von ihren alten Beständen, eine unverpackte Alternative hat sie noch nicht gefunden. Doch sie ist guter Dinge; ihre Blogleser versorgen sie mit wertvollen Tipps. Sie sagt: «Ich will den Leuten zeigen, dass man nicht wie ein Hippie rumlaufen muss, nur weil man keinen Müll mehr produzieren will.»

Lisa ist nicht allein mit ihrem Müll-Minimalismus. Unter dem Motto «Zero Waste» formiert sich eine Bewegung, die nach Alternativen zum Wegwerfkonsum sucht. Berichte über den Great Pacific Garbage Patch, eine Müllhalde im Nordpazifik, von manchen auf die doppelte Fläche der USA geschätzt, und Bilder von verelendeten Albatrossen und Riesenschildkröten mit fingergrossen Plastiksplittern im Bauch haben vielen die Augen geöffnet für die negativen Auswirkungen unseres materialintensiven Lebens. Am produzierten Abfall wird der ökologische Wahnsinn unseres Konsumismus besonders gut greifbar.

Geldlos glücklich

Raphael Fellmer gehört zu jenen, die versuchen, den Minimalismus radikal zu Ende zu denken. Deshalb befindet er sich seit fünf Jahren im selbst erklärten «Geldstreik». Wir treffen ihn im Café Milch & Honig, einem weiss lasierten, mit hellblauen und rosa Kissen auf Gemütlichkeit getrimmten Café, eine halbe Stunde vom Zentrum entfernt. Raphael begrüsst uns mit einer Umarmung, was zu etwas verkorksten Situationen führt, wenn man nicht darauf vorbereitet ist. Er hat eine mit Leitungswasser gefüllte Glasflasche mitgebracht, die Einladung zu einem Kaffee lehnt er dankend ab. Die Betreiber kennen ihn und scheinen ihn zu schätzen – auch wenn er nichts konsumiert.

Diese Bedingungslosigkeit zieht sich wie ein roter Faden durch Raphaels Leben. Der 31-Jährige lebt mit seiner Frau und zwei Kindern in einer Wohnung, die ihm «von lieben Menschen», die er bis vor kurzem nicht einmal kannte, zur Verfügung gestellt wird – einfach weil sie seine Mission unterstützenswert finden. Er trägt Secondhand-Klamotten, den Laptop hat ihm ein Freund aus der Schweiz geschenkt. Esswaren, Körperpflegeprodukte und alles andere, was er und seine Familie zum Leben brauchen, «rettet» er aus Mülltonnen von Biomärkten. Das reiche sogar, um zusätzlich Freunde und Bedürftige mit Lebensmitteln zu beschenken, erzählt Raphael. Kein Wunder: In Europa landen Schätzungen zufolge jedes Jahr 100 Millionen Tonnen Nahrungsmittel auf dem Müll. In der Schweiz werden zwei von drei Kartoffeln nicht gegessen, sondern weggeschmissen.

Raphael Fellmer, 31: Der Autor des Buchs «Glücklich ohne Geld!» möchte in Spanien ein autarkes Dorf ohne Materialismus und Strukturen aufbauen. © Anne Gabriel-Jürgens

Seinen Geldstreik will Raphael als politisches Statement verstanden wissen, «als Widerstand gegen die Überflussgesellschaft, gegen die Verschwendung von Ressourcen und gegen die Ungerechtigkeit». Er ist überzeugt, dass sich unsere Umweltprobleme in einer geldlosen Gesellschaft von allein lösen würden – schlicht weil zerstörerisches Verhalten keinen ökonomischen Sinn mehr hätte. «Jeder Kauf oder Nichtkauf führt zu einer Veränderung», sagt er, «jede Mahlzeit ist ein Statement. Ich will mit meinem Beispiel die Menschen dazu bringen, selber wieder mehr Verantwortung für die Lage in der Welt zu übernehmen.»

Begonnen hat er den Geldstreik auf einer Tramperreise von Holland nach Mexiko. Er ass und schlief bei fremden Leuten, in der Tasche hatte er einzig einen Notgroschen für die Visa bei Grenzübergängen. «Die bedingungslose Liebe, die uns zuteil wurde, war unglaublich.» Er tauscht nicht, ihm wird gegeben. Im Gegenzug referiert er an Schulen über Umweltthemen und darüber, dass die Verwirklichung von Träumen nicht von materiellen Werten und Geld abhänge, sondern vielmehr von der Einstellung. Kürzlich hat Raphael das Buch «Glücklich ohne Geld!» veröffentlicht, einen Teil der Ausgabe kostenlos verteilt und es über seine Website zum Download freigegeben. Mit Gleichgesinnten betreibt er die Plattform foodsharing.de, auf der sich mittlerweile 4000 Mitglieder zwecks Verteilung von aus dem Müll geretteten Lebensmitteln treffen. «Normalerweise brauchst du ja für all das Geld. Wir haben gezeigt, dass es auch ohne geht und erst noch mehr Spass macht, weil alle aus intrinsischer Motivation mitmachen.»

Den Vorwurf des Schmarotzertums hat Raphael schon so oft gehört, dass er sich darauf eine Standardantwort zurechtgelegt hat: «Ja, ich bin auch ein Schmarotzer – ich gehöre zu dieser schmarotzenden, parasitären Gesellschaft, die momentan die Erde zerstört. Aber ich sehe meine Verantwortung und versuche, etwas daran zu ändern. Geld verdienen ist ja keine Kunst. Viel wichtiger ist doch die Frage: Was können wir für unsere Gesellschaft tun?» Er ist zuversichtlich: Gemeinschaftliche Phänomene wie Couchsurfing, Booksharing, die Internet-Enzyklopädie Wikipedia und die Foodsharing-Plattform sind für ihn Beispiele, dass sich das bedingungslose Geben und Nehmen sukzessive verbreitet. Er ist überzeugt, dass die Geldökonomie, wie wir sie heute kennen, nicht überleben wird. Raphaels Zuversicht ist bewundernswert, sein Menschenbild dasjenige des Waldorf-Schülers, der er einst war. Die eigene Zukunft sieht er nicht in Berlin; die Abgase, die grauen Wände, das alles will er nicht mehr. Deshalb sucht er derzeit in Spanien und Frankreich nach einem Stück Land, um «Eotopia» aufzubauen, ein autarkes Dorf ohne Geld, ohne Hierarchien, ohne Schule, ohne Tausch, ohne Erwartungen und komplett vegan. Also doch die alte 68er-Utopie? «Ja, irgendwie schon», räumt er ein, «nur mit Internet und sehr viel Ideenaustausch und Kontakten nach aussen.»

Inspirieren statt Missionieren

«Sei der Wandel, den du auf Erden sehen willst.» – Das Zitat von Mahatma Gandhi ziert nicht nur die Einstiegsseite von Raphaels Webauftritt, sondern auch zahlreiche Minimalismus-Blogs auf der ganzen Welt. Die neuen «digitalen Minimalisten», wie sich manche explizit nennen, suchen die gesellschaftliche Veränderung nicht durch klassische politische Basisarbeit, durch Demonstration oder Streik. Ihr Protest ist ein stiller, individueller, übers Internet geteilter. Einer, der «nicht missionieren, sondern lediglich inspirieren will», wie Lisa sagte. Es ist der Protest einer Generation, die sich von der Parteipolitik mit ihrem Gedöns zunehmend nicht mehr repräsentiert fühlt. Wo andere nach zehn Stunden Interkontinentalflug in Fünfsternehotels über die dringliche Reduktion von CO2-Emissionen schwafeln, nehmen die Minimalisten das Heft selber in die Hand und beginnen den Wandel dort, wo er Erfolg verspricht: bei sich selbst.

Vielleicht beobachten wir gerade das, was der deutsche Sozialpsychologe Harald Welzer «soziale Gymnastik» nennt, um im Kleinen die grosse gesellschaftliche Veränderung einzu­üben. Vielleicht erleben wir aber auch nur die Suche nach einer neuen Ästhetik des Alltags, dem jegliche Kraft fehlt, an bestehenden Machtverhältnissen zu rütteln. Denn in Zeiten des Hyperkonsumismus wird das Reduzieren vielleicht zum letzten wahren Distinktionsmerkmal. Wer zeigt, dass er sich’s leisten kann, nichts zu besitzen, markiert zugleich, dass er mit dem nötigen sozialen und kulturellen Kapital dazu gesegnet ist. Wenn eine «Zero Waste» Bloggerin sich über die Verpackung von Essen und Wärmedecke auf ihrem Langstreckenflug enerviert, ohne ihr eigenes Mobilitätsverhalten zu hinterfragen, wenn sich Ausrümpelnde von ihren Büchern trennen, um auf Amazon eine riesige E-Library zu erstellen, oder wenn ein schweizweit bekannter Minimalist einen Versandhandel für Lingerie und Sexspielzeuge auf die Beine stellt, so kratzt dies zumindest an der Überzeugungskraft des neuen Minimalismus. Denn ein Dildo, mag er anfänglich auch Freude bereiten, gehört früher oder später wohl doch eher zu den Stehrumseln.

Raphael Fellmer hat mittlerweile das Lebensmittelgeschäft SirPlus in Berlin eröffnet, das für die Mülltonne bestimmte Lebensmittel rettet und 30 bis 70 Prozent günstiger weiterverkauft.

Informiere dich hier darüber, wie auch du auf eine reduzierte Ernährung achten kannst und finde hier mehr über die «Zero Waste»-Bewegung heraus.