Wir haben mit Menschen gesprochen, die sich für die Umwelt engagieren, gerade weil sie sich der enormen Herausforderungen bewusst sind, vor denen unsere Gesellschaften stehen. Ihre Motive und Methoden unterscheiden sich. Aber allen sind zwei Dinge gemein: Sie leben den Wandel, den sie in der Welt sehen wollen. Und sie inspirieren dadurch andere, es ihnen gleichzutun. Max Liboiron ist eine von ihnen.

Mit Babystrümpfen und Bürgerwissenschaft gegen Mikroplastik

Max Liboiron ist Biologin, Feministin, Künstlerin und Aktivistin. All diese Facetten ihrer Persönlichkeit bringt die Assistenzprofessorin bei ihrer Arbeit für das «Civic Laboratory for Environmental Action Research» (CLEAR) mit ein. «Wissenschaft und Aktivismus waren für mich schon immer dasselbe», sagt sie überzeugt. Eine nichtaktivistische Forschung sei für sie undenkbar.

Liboiron wuchs in Nordkanada auf, studierte Biologie, absolvierte einen Master in Kulturwissenschaften in New York und doktorierte an der New York University zu Plastikverschmutzung. Vor zwei Jahren zog sie auf die Insel Neufundland in Nordkanada und baute an der Memorial University ihr eigenes Labor auf. Am CLEAR wird fast ausschliesslich zur Verschmutzung der Ozeane durch Plastikmüll geforscht, insbesondere durch Mikroplastik. Das sind nach Definition Plastikpartikel, die weniger als fünf Millimeter gross sind. Bei ihrem Weg durch die Meere reichern sie sich mit giftigen Industriechemikalien an. Das geht so weit, dass in Kanada gefundene Kadaver von Eisbären, die an der Spitze der arktischen Nahrungskette stehen, wegen Vergiftungen als Sondermüll entsorgt werden mussten. In Neufundland leben Tausende Menschen vom Fischfang, und bei den Einwohnern gehören Kabeljau und andere Speise­fische zu den Grundnahrungsmitteln. Der Mikroplastik bedroht auch ihre Gesundheit.

Die Fischereiindustrie trage Mitschuld an der Plastikkatastrophe, erklärt Liboiron. In Neufundland gehöre die kommerzielle Fischerei zu den grössten Quellen von synthetischem Meeresmüll. Die Fangnetze bestehen meist aus Kunststoffen wie Nylon. Anders als traditionelle Netze aus Pflanzenfasern zerfallen diese nicht und bleiben über Jahrhunderte im Meer. Liboiron fordert deshalb neue Gesetzgebungen, welche die Industrie zu nachhaltigeren Verfahren zwingen. «Wir müssen unsere Art, wie wir mit Ressourcen umgehen, komplett überdenken.»

Feministisch und postkolonialistisch informierte Wissenschaft

Heute arbeiten 25 Doktorierende, Stu­dierende, Experten und Bürgerinnen und Bürger ohne Fachausbildung am CLEAR. «Norma­lerweise sind Forschungsgruppen sehr hierarchisch aufgebaut – und an der Spitze steht meist ein älterer weisser Mann», erzählt Liboi­ron. «Bei uns hingegen hat jede Stimme dasselbe Gewicht.» Für die Aktivistin ist das Teil einer «feministisch und postkolonialistisch informierten» Wissenschaft, die sich der herrschenden Machtverhältnisse bewusst ist und diese gezielt untergräbt. «Der soziale Wandel ist in unseren Methoden angelegt», erklärt sie. «Nicht die Forschungsergebnisse und die daraus abgeleiteten Argumentationen sind unsere Instrumente für Veränderung, sondern der Forschungsprozess selbst.»

Liboiron erklärt das an einem Beispiel: Herkömmlich werden Fische für Tests auf Mikroplastik gefangen und getötet. Für Liboiron ist das eine kolonialistische Praxis. Ihr Team geht direkt in die Fischereihäfen, arbeitet mit den Fischern zusammen und nutzt den für den Verzehr gefangenen Fisch für Mikroplastik-Tests. «So analysieren wir nicht ein zufälliges Sample, sondern automatisch den Fisch, der von den Menschen in unserer Region gegessen wird.» Gleichzeitig bilden Liboiron und ihr Team Laien darin aus, Proben von Mikroplastik aus den Eingeweiden der Fische zu entnehmen. So werden sie ermächtigt, künftig selbständig zu bestimmen, wie stark ihr Fisch durch Mikroplastik belastet ist.

Ein weiteres Beispiel für die aktivistische Forschung am CLEAR ist die Entwicklung von Do-it-yourself-Analytikinstrumenten. «Herkömmliche Geräte für die Entnahme von Mikroplastikproben aus dem Meer kosten 35 000 Kanadische Dollar, und für den Einsatz ist ein spezielles Boot notwendig», erklärt
Liboiron. Sie hat mit ihrem Team aus Plastik­flaschen, Babystrümpfen und Metallklemmen für 12 Kanadische Dollar (9 Fr.) ein Gerät ent­wickelt, das sich ebenfalls zur Entnahme von Mikroplastik eignet. Sowohl die Bauanleitung als auch die Methodik für die Probenentnahme werden vom Labor übers Internet geteilt. «Wir wollen, dass alle selbst prüfen können, ob ihre Umwelt verschmutzt ist. Dafür sollte kein Universitätsabschluss nötig sein.» Eine solche «citizen science» – Wissenschaft unter Miteinbezug von Bürgerinnen und Bürgern – kommt laut Liboiron selbst bei konservativen Fischergemeinden in Neufundland gut an: «Sie mögen uns, weil die Zusammenarbeit Spass macht. Und sie schätzen, dass wir nicht so borniert sind wie andere Wissenschaftler», erzählt die Akti­vistin. «Dabei ist ihnen komplett egal, ob unsere Forschung feministisch oder postkolonialistisch oder was auch immer ist.»

Beitragsbild: Max Liboiron unterwegs mit ihrem Team und dem selbst entwickelten Gerät zur Erforschung von Plastikmüss im Meer.

In der nächsten Folge der Walk the Talk! Serie erwartet Sie ein Portrait über Heidi Portmann: Unermüdliche Anti-AKW-Verlegerin.