In den nächsten Monaten schalten wir in loser Folge die Lieblingsartikel unserer Redaktions-mitglieder nochmals auf. Diese haben sie aus den meistgelesenen Online-Stories der letzten Jahre ausgesucht. Heute der Favorit unserer Bildredaktorin Manù Hophan, der von den Bewohnern eines Dorfes im Himalaya erzählt, die ihre alte Heimat aufgrund des Klimawandels aufgeben mussten. 

Kurz nach zehn Uhr taucht die kleine Karawane endlich auf, nimmt die letzte Biegung des Passes und nähert sich Namashung, mit zwei Stunden Verspätung. Es ist eine beinahe biblische Prozession; als seien Könige unterwegs, um dem Kind in der Krippe zu huldigen. Stolz sitzen die Reiter auf ihren Pferden, gemessenen Schrittes kommen sie daher, in ihren schönsten Kleidern. Die Männer tragen mit Fuchspelz verbrämte Hüte, Seidenhemden, schwarze Hosen und verzierte Lederstiefel. Die Jacke des Dorfvorstehers schmücken Bordüren aus dem Fell eines Schneeleoparden, in der Hand trägt er Pfeil und Bogen. Die Frauen zeigen sich in traditionellen Tchubas, darüber an langen Winterabenden gewobene Schürzen in leuchtenden Farben, in den Haaren grosse Türkise. Es ist der 19. Mai 2015. Die Bewohner des Dorfes Sam Dzong, die Sam Dzong Ngas, wie sie sich nennen, treffen ein zur Einweihung ihrer neuen Heimat namens Namashung, in der nördlichsten Ecke des ehemaligen Königreichs Mustang, das heute zu Nepal gehört, 3800 Meter über Meer.

Die Prozession erreicht die ersten Häuser von Namashung und hält schliesslich vor Lama Ngawang und Manuel Bauer. Lama Ngawang, der buddhistische Mönch in roter Robe, auf dem Kopf Polocap und Sonnenbrille, wird die Einweihungszeremonie leiten. Und Manuel Bauer, der Schweizer Fotograf in seiner gelben Outdoorjacke, wird sie dokumentieren. Doch die beiden sind weit mehr als nur Zeremonienmeister und Fotograf. Seit Jahren arbeiten sie auf diesen Moment hin; das neue Dorf ist ihr gemeinsames Werk. Jetzt ist es endlich so weit: Namashung kann eingeweiht werden. «Unglaublich!», sagt Manuel Bauer. Mehr bringt er nicht heraus. Lama Ngawang schweigt — sehr unüblich für ihn, sonst ist er nie um eine treffende Bemerkung verlegen.

Mönche in roten Roben aus Lo Manthang segnen das Dorf. (© Manuel Bauer)

Landschaft von bizarrer Schönheit

Namashung ist eine zehn Hektaren grosse Ebene am Ufer eines kleinen Flusses, eine gute Pferdestunde von Lo Manthang entfernt, dem Hauptort Mustangs. Sie liegt mitten in einer Landschaft, die Karl May zu weiteren Meisterwerken inspiriert hätte. Am Horizont leuchtet der weisse Rücken des Annapurna, davor Fünf- und Sechstausender, als seien sie Küken unter dem Flügel des Himalaya-Riesen. Die Felslandschaft ist von bizarrer Schönheit und abschreckender Einsamkeit, leuchtend in Schwarz, Gelb, Braun, Rot und Weiss. Vor wenigen Tagen haben heftige Erdbeben Nepal erschüttert, fast 9000 Menschen das Leben gekostet und Teile des Landes um einen Meter seitlich verschoben, hier oben glücklicherweise aber nur geringe Schäden angerichtet.

Es ist nicht lange her, da war Namashung nichts als eine graue Ebene, begraben unter Hunderten von Findlingen. Das Plateau sah aus, als hätte eine Armee von Galliern ihre Hinkelsteine deponiert; entsprechend unbrauchbar war der Boden. Unmöglich, in diesem Niemandsland zu leben. Doch inzwischen sind die Findlinge verschwunden, das Plateau ist seit dem Sommer 2014 fertig terrassiert. Gerste soll hier künftig wachsen, das wichtigste Getreide in Mustang, auch Buchweizen und gelb blühender Senf, dazu Kartoffeln, Rettich und Spinat. Namashung soll wieder werden, was der Flurname besagt: eine «grüne Ebene», eine Oase in der Einöde. Ziegen und Pferde werden auf den Hügeln weiden und am Abend, wenn es Zeit ist, von allein zu ihren Pferchen zurückkehren.

Am Rande des Plateaus, an die Flanke des nächsten Hügels geklebt, leuchtet jetzt eine Reihe weisser Häuser in der Sonne. Hier werden die 85 Sam Dzong Ngas künftig leben. Noch ist das Dorf nicht ganz fertig gebaut, aber das ist egal. Wichtig ist, dass die Einweihung genau heute stattfindet. Ein Aufschub wäre ungut, denn der tibetisch-astrologische Kalender besagt klar: Der 19. Mai ist der beste Tag, das Element Feuer zeigt sich gleich zweimal. Das verheisst reiche Ernten und Wohlstand. Hier oben, wo das Leben härter und der Tod näher ist als anderswo, nutzt man besser die Gunst aller überirdischen Kräfte.

Beim Überlaufen eines Gletschersees im Jahr 1984 erstickte die grüne Ebene unter einer Steinflut. Ein Damm wird das neue Dorf vor weiteren Überschwemmungen schützen. (© Manuel Bauer)
Dank der Grosszügigkeit des Königs von Mustang haben die Klimaflüchtlinge wieder eine Heimat. Namashung – die «grüne Ebene» – erwacht zu neuem Leben. (© Manuel Bauer)

Nächtliche Begegnung

Als Manuel Bauer 2008 zum ersten Mal in diese abgelegene Ecke Asiens fand, hatte er gerade seine Stellung als offizieller Fotograf des Dalai Lama aufgegeben. Fünf Jahre lang hatte er den obersten tibetischen Würdenträger auf seinen Reisen für den Frieden begleitet und ihn so nahe erlebt wie wenig andere. Nun war er auf der Suche nach einem neuen Thema, das ihn nicht nur als Fotografen, sondern auch als Menschen herausforderte. Nach Mustang war er gereist, um diese einsame Gegend zu sehen. Sie ist vom 21. Jahrhundert, aber auch vom 20. noch weitgehend unberührt. Im Norden des Himalaya liegend, führt nur ein Weg in das einstige Königreich: durch eine Schlucht mit senkrechten Wänden. Es ist das Tal des Kali Gandaki, manche bezeichnen es als das tiefste Tal der Welt. Wie ein Keil spaltet der Fluss die Kette der Achttausender und verbindet die Niederungen Nepals mit der Hochgebirgslandschaft.

Kaum war Manuel Bauer angekommen, weckte ihn eines Nachts heftiges Klopfen. Vor der Tür seiner Herberge standen drei Männer. Sie rochen nach Pferd und Ziege, trugen gefälschte North-Face-Jacken, darunter Pullover mit der Aufschrift «London London» oder «Fantastic». Aus ihrem Hosenbund ragten lange Dolche und ihre Füsse steckten in Stiefeln mit Camouflagemustern oder Schuhen, die einmal Turnschuhe gewesen waren. Ihre Fingernägel waren so schwarz wie ihre Augen.

Auf verschlungenen Wegen war zu ihnen gedrungen, dass in Mustang ein Mann weilte, der den Dalai Lama im Unterhemd gesehen hatte. Also musste er wichtig sein und Einfluss haben, also war er für sie, Buddhisten tibetischer Abstammung, zweifellos der Richtige, um ihre Verzweiflung darzulegen.

Sie seien aus Sam Dzong, einem kleinen Dorf, abgelegener als alle anderen Dörfer Mustangs, sagten die Männer. Noch nie sei das Geräusch eines Motors in ihr Tal gedrungen. Die Kinder könnten weder schreiben noch lesen – weshalb auch? In Sam Dzong seien solche Kenntnisse nicht gefragt, ebenso wenig, wie man mit Geld umgehe: Es gebe nichts zu kaufen. Arm seien sie, erklären die Männer, aber trotzdem ohne Grund, zu klagen. Wenn da nicht dieses Klima wäre.

Bauer erfährt, dass sie jeden Frühling aussäen, und wenn das Getreide reif ist, fallen die gelben Halme unter dem Schwung ihrer Sicheln. Zu ihren Arbeiten singen sie, Tag für Tag erhalten die Götter etwas Reis, damit alles so weitergeht. Nur der Schneeleopard stört manchmal den Frieden. Er schleicht in der Dunkelheit ins Dorf, springt von Hofmauer zu Hofmauer, bis er jene junge Ziege entdeckt, die er dann zu seiner Beute macht. Das Dorf, versteckt am Fuss brauner Felsen, sei ein kleines Universum für sich, sagen die Männer, ein Leben in friedlicher Bescheidenheit. Jedenfalls sei das so gewesen – bis 1983.

Der harte Alltag im Himalaya zeichnet die Menschen. Im Tal von Sam Dzong hat das 21. Jahrhundert noch nicht begonnen, ja nicht einmal das 20. (© Manuel Bauer)
Ohne Wasser kein Leben: Der Klimawandel lässt das Land vertrocknen – und raubt damit den Menschen in Mustang die Existenz. (© Manuel Bauer)

Wütende Natur

Tashi Tsering, einer der ältesten Einwohner Sam Dzongs, kann sich so genau an das Jahr erinnern, weil damals seine zweite Tochter geboren wurde. «Ende Winter schmolz der Schnee früher als sonst, so früh, dass die Felder noch nicht bereit waren.» Aber er schmolz auch schneller, weshalb der Fluss nicht wie üblich als schmales Band in seinem Bett mäandrierte, er wandelte sich zum reissenden Strom und schwemmte die fruchtbare Erde fort. Auch im Sommer war das Wetter anders, in diesem wie auch im nächsten und übernächsten, plötzlich schien das die neue Regel zu sein. Hier, im Regenschatten des Himalaya, gingen plötzlich wütende Gewitter nieder. Hagel zerschlug die Ähren. Von den Felsen über dem Dorf schossen Sturzbäche in die Tiefe. Wenn die Menschen hinausrannten, um das wilde Wasser in Gräben zu leiten, wurden sie von Steinen getroffen. Sie fürchteten um ihr Leben, weshalb der Dorfvorsteher jeweils einen Tanz begann, um die Götter zu beschwichtigen. Umgeben von Weihrauchwolken stellte er sich in die prasselnde Nässe, betete und sang. Das half, aber nicht immer.

Und wenn es nicht regnete, dann schien über Sam Dzong die Sonne so lang und so heiss wie noch nie. Über Wochen, gnadenlos ausdauernd, bis der Fluss kein Wasser mehr führte und sich ein Netz hässlicher Risse über die Erde legte. Jedes Jahr verloren sie weitere Felder, weil sie den Boden nicht mehr genügend bewässern konnten und weil dort, wo bis anhin fruchtbare Erde gelegen hatte, nun Steine und nackter Fels glänzten. Im Herbst mussten die Menschen in Sam Dzong jeweils feststellen, dass der Ertrag der Felder wieder nicht reichen würde. So etwas hatten sie noch nie erlebt. Nachdem sie die Veränderungen dreissig Jahre beobachtet hatten, erkannten sie, was unweigerlich auf sie zukam: das Ende ihrer Zeit in Sam Dzong. Sie brauchten ein neues Zuhause, in einem anderen Tal mit einer sichereren Wasserversorgung. Aber sie verstanden den Grund nicht, der sie dazu zwang. Das Wort «Klimawandel» fehlt in ihrem Wortschatz.

Bereits vor 3000 Jahren war das Tal in dem Sam Dzong liegt bewohnt. Doch nun ist Schluss. Den Bauern fehlt das Wasser für die Felder. (© Manuel Bauer)

Neue Kochherde für alle

17. Mai. Noch zwei Tage bis zur Einweihung. Ein Traktor hat in einer tagelangen Reise die Kochherde für die neuen Häuser gebracht: die Herzen der Häuser. Im feuchtheissen Tiefland Nepals wurden sie aufgeladen, dann fuhr der Trekker entlang des Flussbetts des Kali Gandaki, wo Versteinerungen die Vergangenheit des Tals als Meeresboden zeigen, heute liegt der Fluss 3000 Meter höher. Dann schraubte sich der Traktor auf einer Staubpiste entlang klaffender Abgründe in die Höhe, um schliesslich Namashung zu erreichen.

Die Männer tragen die Herde in die Küchen, die Frauen folgen mit den Ofenrohren, und so bewegt sich eine Prozession von Herden und wippenden Rauchfängen die Häuserfront entlang. Mit ein paar Steinen unterlegen die Männer die Füsse der wackelnden Herde, dann stossen sie die Rohre durch die vorbereiteten Dachluken. Zack zack, fertig ist die Grundausstattung der Küche. Dolkar Thinley, das Gesicht zerfurcht, aber so strahlend wie eine gerade erblühte Blume, steht vor jenem Haus, das während der Bauzeit als Kantine genutzt wird. Sie ist in Sam Dzong geboren und dort aufgewachsen. Schmerzt es sie, dass sie ihr Tal verlassen musste? «Etwas», sagt sie. Der Umzug habe aber auch seine Vorteile. Welche denn? Dolkar überhört die Frage, ab sofort hat sie keine Zeit mehr, denn eben kommen die Männer mit ihrem Herd um die Ecke, sich gegen die Windböen stemmend. Welches Glück! Noch nie konnte sie auf einem so schönen Herd kochen.

Zwei Tage vor der Einweihung Namashungs können die Frauen zum ersten Mal die neuen Kochherde einfeuern. Es ist, als würden die Herzen der Häuser zu schlagen beginnen. (© Manuel Bauer)

Sobald das Ofenrohr aufgesetzt ist, zerhackt sie vom ewigen Sturm bizarr verdrehte Aststücke, schiebt zusätzlich etwas Weihrauch und Wacholder in das Feuerloch und zündet an. Ein heiliger Moment. Als würde das Herz des Hauses zu schlagen beginnen. Beissender Rauch steigt auf, reinigend und die Götter gnädig stimmend. Um mehr Hitze zu erzeugen, schiebt Dolkar eine Handvoll Ziegendung nach. Sie geht sparsam damit um, denn die kleinen Kotkugeln sind wertvoll. Wenn die Temperaturen im Winter so tief sinken, dass die Menschen sich ängstigen, ist Ziegendung die einzige Versicherung gegen die Kälte. Und im Sommer düngen die Kügelchen aufgrund ihres Gehalts an Mineralien besser als jeder andere tierische Kot.

Aber wie ist der Mist nach Namashung gekommen? Noch ist das Dorf eine Baustelle, noch weiden die Ziegen in Sam Dzong. Dolkar versteht die Frage nicht, besser gesagt, sie versteht nicht, weshalb sie das erklären muss. Ist doch klar: Jeden Morgen, wenn die Hirten in Sam Dzong mit den Tieren Richtung Weiden aufbrechen, wischen sie und die anderen Frauen die Kügelchen zusammen, lassen sie von der Sonne trocknen und legen sie als Vorrat zur Seite. Aus diesem Vorrat hat sich Dolkar bedient. Sie füllte den Kot in einen grossen Korb und diesen Korb trug sie über einen 4200 Meter hohen Pass nach Namashung. Auf ihrem Rücken. Wie lange das dauert? «Drei Stunden ein Weg, hin und zurück also sechs Stunden.» Sie sagt das ohne Regung, ohne sich zu brüsten, ohne die Anstrengung zu betonen. Weshalb auch, wenn das Leben keine andere Wahl lässt.

Ein steiler Pass trennt Sam Dzong vom Rest der Welt. Noch nie ist das Geräusch eines Motors bis hierher gedrungen. (© Manuel Bauer)

Handwerker aus dem Tiefland

Von draussen ist das Hämmern der Steinmetze zu hören, hell und scharf, gleichzeitig das Raspeln der Hobel, wenn die Schreiner das Holz für die Fensterrahmen bearbeiten, und irgendwo noch das Knirschen von Schaufeln, die in einen Kieshaufen gestossen werden. Es sind die einzigen Geräusche auf der Baustelle. Kein Grollen von Betonmischern, keine Presslufthämmer, nicht einmal das Sirren eines Bohrers – es gibt keine einzige Maschine.

Als im Sommer 2014 die Bauarbeiten begannen, erkannten Lama Ngawang und Manuel Bauer schnell, dass die Sam Dzong Ngas Unterstützung brauchten. Zwar waren sie gewiefte Handwerker und fähig, die neuen Häuser allein zu bauen, doch konnten sie jeweils nur ein Mitglied pro Familie nach Namashung schicken, galt es doch gleichzeitig das Land in Sam Dzong zu bewirtschaften. Deshalb engagierten Lama Ngawang und Manuel Bauer zusätzliche Handwerker aus dem Tiefland.

Zusammen mit den künftigen Bewohnern begannen sie in der Folge die Steine für die Mauern aus dem nahen Flussbett zu holen. Sie trugen sie auf dem Rücken zur Baustelle und schlugen sie in die richtige Form, von Hand, jeden einzeln. Um die Steine zu Mauern zu verbinden, suchten sie lehmige Erde und mischten sie mit Flusssand und Wasser zu Mörtel. Alles Baumaterial stammt aus der Natur. Dass die Mauern manchmal nicht ganz gerade sind und wie kleine Wellen schwingen, stört niemanden. Als die Rohbauten standen, verputzten sie die Wände von Hand, sodass die Spuren ihrer Finger für immer zu sehen sein werden. Danach weisselten sie die Wände mit Pigment, das sie aus einer Felswand gekratzt hatten, und als sie damit fertig waren, waren nicht nur die Wände weiss, sondern auch die Menschen, von Kopf bis Fuss. Ihre Haut war weisser als die der Weissen, was sie belustigte.

Wie alle Materialien zum Bau des neuen Dorfes stammt auch die Farbe für die Hauswände aus der Natur. (© Manuel Bauer)

Seit den ersten Frühlingstagen 2015 beschützen sie eine grauschwarze Braunelle. Inmitten der Arbeiten hatte sich der kleine Vogel eine Mauerlücke zum Brüten ausgesucht. Eigentlich wollten sie das Loch schliessen, als das Haus fertig war. Aber der Vogel und seine Eier waren ihnen wichtiger. Sie gehen Tag für Tag zum Nest und schauen, wie es geht, nur leise sprechend, um nicht zu stören. Er hätte Namashung gerne im Stil der anderen Dörfer hier oben gebaut, sagt Manuel Bauer: «Ineinander verschachtelte Häuser, schmale Gassen, über lange Jahre harmonisch gewachsen.» Wie eine Herde Yaks in einem Wintersturm sollte das Dorf aussehen, wenn sich die Tiere möglichst nahe aneinander drängen. «Aber leider erinnert Namashung eher an ein Motel in den USA.» Das mache ihn nicht besonders glücklich.

Tatsächlich erinnern die Häuser an eine Billigschlafstätte am Rand eines Highways, gebaut in einer langen Reihe, 18 identische Würfel. «Es fehlen nur die Parkplätze.» Er habe in der Schweiz sogar einen Architekturwettbewerb ausschreiben wollen: «Ich wollte ein Dorf, das gefällt. Doch es gab zwingende Gründe, Namashung genau so zu bauen.» Um die Häuser vor Überschwemmungen zu schützen, planten Manuel Bauer und Lama Ngawang sie in maximaler Distanz zum Flussufer, an eine Hügelflanke gedrückt, ganz am entfernten Ende des Plateaus. Für den Bau in einer langen Reihe sprach auch, dass so möglichst wenig wertvolle Ackerfläche verlorengeht. «Und», kann sich der Fotograf rechtfertigen, «den Sam Dzong Ngas gefällt die Architektur.» In ihren Augen ist die Motelanordnung modern, und was modern ist, ist gut.

Die 18 identische Häuser werden mit Mineralfarben bemalt. Zum Schutz vor Dämonen: Gelb = Manjushri. Weiss = Avalokitesvara. Schwarz = Vajrapani. (© Manuel Bauer)

Umzug als einzige Lösung

Nachdem Manuel Bauer 2008 erstmals von den Problemen der Sam Dzong Ngas gehört hat, bleibt er schlaflos in seiner Herberge liegen. Zu sehr wühlt ihn ihre Not auf. Am nächsten Morgen entscheidet er sich, mehr in Erfahrung zu bringen, und trifft schon bald jenen Mann, ohne den hier oben die Welt stillstehen würde, ohne den es im Hauptort Mustangs kein kleines Wasserkraftwerk geben würde, ebenso wenig eine Schule, in der auch Mädchen zugelassen sind: Lama Ngawang. Die beiden verstehen sich und bald sind sie sich einig, dass sie den Sam Dzong Ngas beistehen wollen.

Zurück in der Schweiz berät sich Manuel Bauer mit einer kleinen Gruppe engagierter Geologen und Klimaexperten. Schliesslich reist er mit ihnen ein weiteres Mal nach Mustang. Gemeinsam analysieren sie die Lage, sie reiten zu den Quellen über Sam Dzong, prüfen ihre Ergiebigkeit und ob sie sich besser fassen lassen. Sie diskutieren, ob sich die Wassernot des Dorfes mit einem Reservoir beheben liesse: Eine 15 Kilometer lange Pipeline könnte die Quelle des Flusses mit den Feldern in Sam Dzong verbinden. Auch der Einsatz einer Grundwasserpumpe wird geprüft. Doch schliesslich zeigt sich, dass gegen den Klimawandel kein Kraut gewachsen ist. Die Pipeline könnte der Wucht der Unwetter nicht standhalten. Eine Probebohrung in die Tiefe bleibt ohne Erfolg.

Die Menschen in Sam Dzong müssen erkennen, dass sie in ihrem Dorf nicht länger bleiben können, wissen aber keinen Ausweg. In ihrer Not schicken sie eine Delegation zu König Jigme Palbar Bista. Obwohl von der Regierung Nepals entmachtet, ist der Monarch immer noch Grossgrundbesitzer und eine der wichtigsten Personen im Rücken des Himalayas. Sie wollen ihn um Hilfe bitten; vielleicht verfügt er über Land in einem anderen Tal, dessen Fluss nicht wie in Sam Dzong nur von Niederschlägen, sondern auch von Gletscherwasser genährt wird.

Also machen sich die Abgesandten auf, reiten über den 4200 Meter hohen Pass nach Lo Manthang und gehen durch das Stadttor, unverändert seit dem 15. Jahrhundert, begehren Einlass am Palast mit seinem uneinnehmbar scheinenden Holztor, drücken sich vorbei an zähnefletschenden Hunden und stehen schliesslich im Empfangsraum. So etwas Schönes haben sie noch nie gesehen: Reich verzierte Möbel stehen auf kunstvoll geknüpften Teppichen, darunter edles Parkett. Als der Regent hereinkommt, ein alter Mann mit Wollmütze anstelle der Krone, legen sie ihre Handflächen zusammen und tragen ihr Anliegen vor: Sie müssten Sam Dzong verlassen, aus einem Grund, den sie nicht verstünden, der ihnen aber das Wasser gestohlen habe. Sie brauchten eine neue Heimat und nur der König in seiner Güte könne sie retten.

Der König weiss bereits um ihre Not. Lama Ngawang, aus der gleichen Familie wie er, hat ihn auf den Besuch vorbereitet. Und so hat er sich jene Lösung ausgedacht, die er ihnen nun darlegt: Namashung. Die Steinwüste. Seit dem Ausbruch eines Gletschersees im Jahre 1984 ist das Plateau Brachland. Die Wucht der Wasserwalze hatte damals Findlinge so gross wie Kleinwagen über zwanzig Kilometer talabwärts geschwemmt und die Felder unter einer dicken Schicht Sand begraben. Zehn Hektaren blühende Natur erstickten. Eine andere Möglichkeit als dieses Stück Wüste gebe es nicht, macht der König klar. Alles Ackerland ist vergeben, keines der Dörfer ist bereit, es mit den Klimaflüchtlingen zu teilen. Fruchtbar ist Mustang nur, wo Wasser fliesst, wo sich die Felder als dünner Saum an den Ufern der wenigen Flüsse ansaugen. Als wären sie Parasiten.

Als der König seinen Vorschlag ausgeführt hat, müssen die Sam Dzong Ngas nicht überlegen. Sie willigen sofort ein, dankbar für den Ausweg aus ihrer Not. Sie wissen zwar nicht, wie sie dieses Land wieder urbar machen sollen, sie wissen nicht, wie sie hier ein neues Dorf bauen und sich vor der nächsten Überschwemmung schützen können, aber sie sind es gewohnt, auch für unmögliche Probleme eine Lösung zu finden.

Obwohl 2008 entmachtet, ist der König immer noch Grossgrundbesitzer. Anstelle einer Krone trägt er eine Wollmütze. Links: Lama Ngawang Kunga Bista. (© Manuel Bauer)

Tränen am Rednerpult

Ihre Lösung heisst Manuel Bauer. Als klar wird, dass Sam Dzong keine Zukunft hat und ein neues Dorf an einem anderen Ort gebaut werden muss, überlegt er nicht lange. Um für das Projekt Geld zu sammeln, publiziert er die Geschichte der Sam Dzong Ngas in Magazinen und verbindet sie mit Spendenaufrufen, er hält Vorträge und schämt sich nicht, am Rednerpult zu weinen aus Verzweiflung über die Zerstörung dieses Planeten. Gleichzeitig stellt er fest, dass es in seinem Leben ab sofort ein neues Problem gibt: Der Fotograf ist nun plötzlich Bauunternehmer – ein Gewerbe, von dem er keine Ahnung hat. Und seine Baustelle liegt erst noch 9620 Kilometer von seinem Wohnort entfernt. Anstatt zu fotografieren, beschäftigt er sich nun mit Fragen zum Landrecht, er recherchiert Öfen mit geringem Holzverbrauch und wenig CO2-Ausstoss und lernt, wie man Hunderte von Spenden administrativ verarbeitet – ein Job, der ihn Tag und Nacht beschäftigt.

Anfang 2014 ist es so weit: Der Kontostand ist hoch genug. Längst sind die Häuser auf dem Papier entworfen. Jedes wird vier Zimmer haben: Altarraum, Vorratsraum, Sommer- und Winterküche. Schlafen werden die Menschen dort, wo gerade Platz ist. Tibetische Teppiche genügen ihnen als Unterlage, darüber einige Decken; am Morgen rollen sie alles zusammen. Die Häuser werden grösser sein als in Sam Dzong, aber weiterhin ohne Strom, ohne Wasser, ohne Bad – genau so, wie die Menschen sich zu leben gewohnt sind. Als Manuel Bauer mit Lama Ngawang diskutiert, weshalb nicht wenigstens Toiletten eingeplant werden, antwortet der Mönch: «Weil die Sam Dzong Ngas die grösste Toilette der Welt vor der Nase haben – die Natur.»

Der Deal mit den Nachbarn

18. Mai. Noch ein Tag bis zur Einweihung. Die Spannung steigt, vor allem weil die Arbeiten an den Häusern stocken. Um ihren Familien beizustehen, sind die nepalesischen Bauarbeiter nach den Erdbeben in ihre Dörfer auf der anderen Seite des Himalaya gereist. Nun fehlen sie. Am meisten ärgern die Verzögerungen Lama Ngawangs Assistenten Tsewang Gurung, einen jungen Mann aus dem unteren Teil Mustangs mit indischer Top-Ausbildung. Stets ist er in Eile und findet nicht einmal Zeit, seine Brille von der dicken Staubschicht zu befreien. Als der Mönch am frühen Morgen in Namashung eintrifft, empfängt ihn der Assistent schlecht gelaunt. Die Sam Dzong Ngas sollten bereits an der Arbeit sein, sind es aber nicht. «Sie sind so unpünktlich», schimpft er. Manchmal kehren sie ohne Ankündigung in ihr altes Dorf zurück, doch dabei geht jeweils ein ganzer Arbeitstag verloren. «Nie sind sie dort, wo sie sein sollten.» Bei einem der Häuser fehlt immer noch das Dach, bei anderen sind die Umgebungsmauern nicht fertig, also bitte. «Bis heute Abend ist das alles weg hier!», herrscht er einige Männer an, die zwar bereits Schaufeln in den Händen halten, aber untätig plaudern. Er zeigt mit ausgestrecktem Finger auf einen Erdhaufen. Dann klopft ihm Lama Ngawang auf die Schulter und beruhigt ihn. Er hat eine gute Nachricht.

Nyima, 18, ist froh, dass die Zeit in Sam Dzong vorbei ist. Zu abgelegen, zu einsam.Seit gestern Abend ist klar, wie die Felder in Namashung bewässert werden können. «Ein Wunder ist passiert!» Streitigkeiten mit dem Nachbardorf hatten bislang eine Lösung verhindert. Lama Ngawangs Bruder, Besitzer des einzigen Bulldozers hier oben, hatte im vergangenen Jahr etwas vorschnell einen Wasserkanal ausgehoben, mitten durch das Land der Nachbargemeinde. Das gab böses Blut. Doch Lama Ngawang wartete geduldig, bis sich der gröbste Ärger gelegt hatte, und er wartete noch geduldiger auf eine Gelegenheit, um das ursprüngliche Ziel trotzdem zu erreichen.

Mit den Erdbeben kam die Lösung. Die Stösse hatten im Nachbardorf zwar nur zu einigen Mauerrissen und angeknacksten Balken geführt, aber dennoch trauten sich die Menschen nicht mehr in ihre Häuser. Für Reparaturen fehlten die Mittel. Das brachte Lama Ngawang und Manuel Bauer auf die Idee, in der Schweiz zusätzliches Geld zu sammeln. Damit könnten die Erdbeben- und andere Schäden repariert werden. Diese Idee schlug der Mönch dem Vorsteher des Nachbardorfs vor; als Gegenleistung würden die Sam Dzong Ngas die Erlaubnis erhalten, den begonnenen Wasserkanal fertigzustellen. «Das hat funktioniert.» Lama Ngawang schmunzelt.

Näher bei den Boys

In einem der Häuser ist eine Gruppe von Frauen inzwischen daran, den Boden für den Einzug vorzubereiten. Zu ihnen gehört Nyima Thinley. Sie ist 18, trägt Jeans mit den Initialen CK in glitzerndem Strass, in ihrer Hosentasche steckt ein Skyphone mit so abgewetzten Tasten, dass die Nummern kaum noch lesbar sind. Nyima ist froh, dass die Zeit in Sam Dzong vorbei ist. Zu abgelegen, zu einsam. Von Namashung aus ist der Hauptort Mustangs viel schneller zu erreichen, in einer guten Stunde Fussmarsch. Die Nähe zur lokalen Metropole – immerhin 569 Einwohner und ein Lokal mit Coca-Cola und Illy-Kaffee – ist ein grosser Vorteil. Hier kann sie andere Teenager treffen, auch Boys …

Nyima lacht und macht sich an die Arbeit. Um den Lehmboden erst einmal grob auszuebnen, greift sie sich einen Pickel und rammt ihn so heftig in den Boden, als wolle sie den Planeten spalten. Derweil beginnen die anderen Frauen den Boden zu wässern, legen leere Reissäcke unter die Füsse und stampfen anschliessend den Untergrund mit schnellen Schritten im Takt: ein Stepptanz am Ende der Welt. Dazu singen sie: «Auf dem Pass aus Gold und Kupfer / weht eine goldene Fahne / Ihr Leuchten ist von weiter Ferne zu sehen / Das macht die Menschen sehr glücklich.» Sie singen mit Inbrunst und Hingabe, was Nyima aber nicht daran hindert, gleichzeitig Kaugummiblasen knallen zu lassen. Grosse Blasen, die sich über ihre Nase legen. Als die pinkfarbene Masse beim Singen dann doch zu fest stört, klebt sie sie zur Zwischenlagerung an ihren Ohrschmuck.

Über Nacht sind die Sam Dzong Ngas in ihr altes Dorf zurückgekehrt, um ihre schönsten Kleider zu holen. Jetzt bereiten sie sich für die Einweihung vor. (© Manuel Bauer)

Die neuen Häuser werden verlost

19. Mai. Die Einweihung. Der Wind hat bereits zu seinem Spektakel angesetzt, wie jeden Tag gegen elf Uhr, als die Karawane vor der langen Häuserreihe hält, die festlich gekleideten Menschen von ihren Pferden steigen und sich vor dem ersten Gebäude versammeln, im Halbkreis, ehrfürchtig wie in der Kirche, in den Händen Glücksschleifen. Niemand beschwert sich wegen der zwei Stunden Verspätung. Um acht Uhr waren sie erwartet worden, so hatte es Lama Ngawangs Assistent mit ihnen abgesprochen, aber wahrscheinlich hatten sie sich unterwegs zu lange am Sitz der Dorfgottheit Phoyawha aufgehalten; sie gilt als leicht reizbar und Lama Ngawang hatte den Sam Dzong Ngas geraten, zur Beruhigung der Göttin einige zusätzliche Gebetsfahnen aufzuhängen.

Zur Einweihung gehört auch ein Pferderennen. Wie lange die Menschen hier bleiben können, ist ungewiss: Der Klimawandel lässt auch die Gletscher über Namashung schmelzen. (© Manuel Bauer)

Nun kann die Zeremonie beginnen. Das heisst: Lama Ngawang übergibt die Häuser den einzelnen Familien. Dass die Zuteilung erst jetzt erfolgt, und zwar per Los-Entscheid, haben die Sam Dzong Ngas selbst so gewünscht. Sie wollten warten, bis alle Häuser fertig gebaut sind. So liess sich verhindern, dass jemand nur am eigenen Haus baut. Und mit dem Ziehen von Losen können sie sicherstellen, dass sich keine der 18 Familien übervorteilt fühlt, denn nicht alle 18 Häuser sind genau gleich gross. Es seien nur ein paar Zentimeter Unterschied, weiss Assistent Tsewang, er hat sie gemessen. Aber ihr von den täglichen Nöten auf 3800 Metern gut entwickelter Gerechtigkeitssinn bewog die Sam Dzong Ngas, jeglichen Anlass für Neid auszumerzen.

Assistent Tsewang Gurung hat die Besitzurkunden vorbereitet, in einer Nachtschicht. Er hat aus einem 700 Jahre alten Buch 18 Gedichte ausgewählt, sie zur Feier des heutigen Tages etwas umgeschrieben und unter jedes Gedicht den Namen einer Familie gesetzt. Dann hat er die Urkunden zusammengebunden, mit Bändern, deren Farben den fünf Elementen der tibetischen Lehre entsprechen. Nun trägt er die Rollen vor sich auf einem silbernen Tablett, alle Sam Dzong Ngas starren darauf: Hier liegt ihre Zukunft. Jetzt wird sich klären, wer wen als Nachbarn erhält, wer eher in der Mitte oder an einem der Enden der langen Häuserreihe wohnen wird. Ein Moment, der auf die kommenden Jahrzehnte, vielleicht Jahrhunderte ausstrahlen wird.

Vor der Verteilung will Lama Ngawang aber noch die Götter gnädig stimmen, weshalb er die Rollen segnet und Reiskörner darüber streut, als Symbol für Fruchtbarkeit und Gelingen. Weihrauch steigt in den Himmel, dann Stille. Kein einziges Geräusch, nichts. Lama Ngawang bestimmt zwei Kinder als Glücksfeen; sie ziehen das erste Los aus dem Stapel. Der Mönch entrollt die Urkunde und liest das Gedicht: «Blitze erhellen die Wolken am Himmel / auf der Erde tanzen freudig Pfauen /Möge nun sanfter Regen fallen / und alle lebenden Wesen erfreuen.» Dann der entscheidende Moment: Welcher Name steht darunter?

Ein Moment voller Spannung: Die Verlosung der neuen Häuser. (© Manuel Bauer)

«Tsewang und Dolkar Rigzin!» Wie ein Herold im Mittelalter ruft Lama Ngawang die neuen Besitzer aus. Tsewang Rigzin zuckt unter seinem mächtigen Fellhut zusammen, dann tritt er gesenkten Hauptes vor und nimmt die Urkunde entgegen. Er zögert, wie soll er sich nun verhalten, feierlich oder erfreut? Er entscheidet sich zu lachen. Und ruft: «Lha gyal lo!» – «Sieg den Göttern!» Dann betritt er, was ab sofort sein Haus ist, Dolkar folgt in gebührendem Abstand. Tsewang bindet eine Glücksschleife um den Stützbalken in der Küche, hält einen Moment inne und faltet die Hände, seine Frau tut es ihm gleich. Jetzt lacht er erneut.

Nach zwei Stunden sind alle Häuser verteilt. Aus 18 gesichtslosen Würfeln ist das Zuhause von 18 Familien geworden, die neue Heimat der Sam Dzong Ngas. Namashung ist Realität – ein grosser Moment. Alles ist gut gegangen. Ausser dass zwei der frisch erkorenen Hausbesitzer beim ersten Gang über die eigene Schwelle stolperten. Doch niemand erkennt darin ein schlechtes Omen. Das ist erstaunlich, denn hier oben, wo sich die vielen Dämonen stets mit den guten Wesen in den Haaren liegen, gilt es auf solche Zeichen zu achten. Die Strauchelnden ernteten einzig Gelächter – und lachten mit.

Als alles vorbei ist, tritt Dolkar Thinley vor und geht zu Manuel Bauer, beobachtet von allen. Sie berührt mit ihrer Stirn seine Stirn, faltet ihre Hände und beginnt zu weinen, laut und heftig. Und als sie nicht aufhört, setzen auch andere in das Lamento ein, es ist ein grosses Schniefen und Schnäuzen unter einem tiefblauen Himmel, der ihnen zum Feind geworden war, ohne dass sie es verstehen, ohne dass sie dafür verantwortlich sind.

Das Werk ist vollbracht

Am Tag nach der Einweihung gehen die Arbeiten weiter. Nichts hat sich verändert und doch ist alles anders: Die Sam Dzong Ngas sind nun Namashung Ngas. An einen verbliebenen Findling gelehnt, schauen Lama Ngawang und Manuel Bauer auf die Häuserreihe. Beide sind entspannt; das Werk ist vollbracht. Sie besprechen, was noch zu tun ist, es ist einiges, doch endlich sind die Pendenzen überschaubar. Dringend sind die Brunnen, drei sind geplant. Sie fehlen nicht nur als Wasserquellen, sondern auch als Treffpunkte, denn wie überall in Mustang spielt sich hier das Leben ab. Im ersten Morgenlicht kommen die Menschen, um Wasser zu holen und Zähne zu putzen. Hier waschen sie Kleider und Geschirr, hier erzählen sie sich das Neuste. Und ja, ganz wichtig: die Gebetsfahnen. In zwei Tagen bereits sollen die Masten stehen, zehn Meter hoch. Lama Ngawang hat es angekündigt. Von ihren Spitzen aus werden die Namashung Ngas Leinen mit Tausenden von Fähnchen spannen, in den Farben der Elemente. Lungta, das Windpferd, wird ihre Botschaften in den Himmel tragen. Was fehlt noch? «Mehr Bäume», schlägt Manuel Bauer vor. Bereits sind 150 Pappeln gesetzt, in einer langen Reihe entlang der Häuser. Sollen sie noch mehr pflanzen? «Ja, viele, aber erst später.»

Dann drehen sich der Mönch und der Fotograf um und schauen hinaus auf das Plateau, wo der Boden bald einmal gepflügt werden soll, zuerst mit dem Traktor, weil sich weiterhin grössere Steine im Untergrund verstecken, dann mit den Ochsen, wie schon immer. Die Frauen werden weiteren Ziegenmist nach Namashung tragen und als Dünger ausbringen und im Frühjahr 2016 soll zum ersten Mal angesät werden.

150 Bäume werden gepflanzt. Später werden es noch viel mehr. (© Manuel Bauer)

Noch fehlt der Schutzdamm

Bis die Felder tragen, wird Namashung auch vor möglichen weiteren Überschwemmungen geschützt sein. Manuel Bauer hat einen Schweizer Ingenieur mit dieser Aufgabe betraut. Der Experte für Flussverbauungen hat die Situation an Ort und Stelle analysiert, gerechnet und plant nun einen über hundert Meter langen Damm, so massiv und sicher, dass er auch einer Jahrhundertflut standzuhalten vermag.

Es ist viel Aufwand, der Hochwasserschutz ist teuer und wird das Budget so belasten, dass Manuel Bauer noch mehr Geld sammeln muss. Dass unklar ist, wie lange die Namashung Ngas am neuen Ort überhaupt bleiben können, muss er hinnehmen. Denn auch dieses Tal wird eines Tages zu wenig Wasser haben – sofern die Menschen im Tiefland nicht bald verstehen, welche Folgen der Klimawandel hat. Die Gletscher im Kranz der Sechstausender werden schwinden wie alle anderen und ihr Eis wird irgendwann ganz geschmolzen sein im Verlauf der nächsten fünfzig, hundert oder noch mehr Jahre, niemand weiss das so genau. Dann wird nicht nur Namashung unbewohnbar sein, sondern ganz Mustang: Alle Dörfer in dieser Einöde werden kein Wasser mehr haben. Es wird kein Leben mehr möglich sein im Rücken des Himalaya, dreitausend Jahre nach der ersten Besiedelung, wie Schädelfunde belegen.

Doch so weit denken, auch sie sind entspannt. Die Frauen machen sich über einen Karton Fruchtsäfte her – ein Luxus aus der Metropole Lo Manthang, auch wenn das Verfallsdatum ein halbes Jahr zurückliegt. Nyima sitzt allein mit dem Skyphone auf der Treppe ihres Hauses und starrt es an; soeben ist ihr der Kredit ausgegangen. Die Männer lehnen an einer Hausmauer und trinken selbstgebrautes Bier, aufbewahrt in alterstrüben Colaflaschen. Wie ging für sie die Verlosung aus? Hätten sie sich ein anderes Haus gewünscht? «Nein.» – «Genau dieses.» – «Ich habe den Wunschnachbarn.» Sind sie zufrieden? «Ja.» — «Sehr.» Wieder einmal haben die Götter alles richtig entschieden.

Ein Adler zieht derweil seine Kreise am Himmel.

An diesem einen Tag arbeiten die Namashung Ngas etwas weniger geschäftig als sonst. (© Manuel Bauer)