Bei dem Atomunfall im japanischen Tokaimura waren wesentlich mehr Menschen gefährlicher Strahlung ausgesetzt, als die offiziell genannten 49 Personen, die sich während des Unglücks innerhalb der Atomanlage aufhielten. Ursachen sind eine sehr hohe Neutronenstrahlung auch ausserhalb der Anlage und die nur schleppend angelaufene Evakuierung der Bevölkerung. Das ist das Ergebnis von Untersuchungen, die Greenpeace nach dem Unglück vor Ort durchgeführt hat. Während der unkontrollierten Kettenreaktion betrug die Strahlendosis im Umkreis von 175 Metern, also deutlich über das Gelände der Atomanlage hinaus, noch durchschnittlich ein Millisievert pro Stunde. Ein Vielfaches des in Deutschland gültigen Grenzwertes: Hier zu Lande darf die Strahlungsbelastung durch Atomanlagen für ein ganzes Jahr bei maximal 0,3 Millisievert liegen.

Tokio/Hamburg. Obwohl schon nach den ersten zehn Minuten des Unfalls klar war, dass eine unkontrollierte Kettenreaktion stattfindet, bei der grosse Mengen Neutronenstrahlung frei werden, warteten die Behörden noch fast fünf Stunden mit der Evakuierung, sagt Greenpeace-Energieexperte Jan Rispens in Tokio. «Schwer zu verstehen, warum dabei nur Personen innerhalb der Anlage Strahlung abbekommen haben sollen, da die Atomfabrik direkt an ein Wohngebiet grenzt. Möglicherweise wurden ausserhalb der Anlage noch über 100 Menschen viel zu hohen Strahlendosen ausgesetzt.»Weder der Betreiber der Anlage, die Firma JCO, noch die japanischen Behörden haben in den ersten sechseinhalb Stunden nach dem Unfall überhaupt Neutronenmessgeräte eingesetzt. Um die volle Strahlendosis unmittelbar nach dem Unfall festzustellen, untersuchte das Greenpeace-Team Kochsalz aus den Häusern der Anwohner. Wenn normales Salz von Neutronen bombardiert wird, entsteht Natrium 24. Die Menge dieses Stoffes im Kochsalz gab Aufschluss über die Strahlenintensität direkt nach den Unfall.Neutronenstrahlung ist eine der gefährlichsten Strahlungsarten überhaupt, vor der auch Häuser keinen Schutz bieten. Die Menschen, die vom Zeitpunkt des Unglücks bis zur Evakuierung in der näheren Umgebung der Atomfabrik waren, müssen einer Strahlendosis von etwa fünf Millisievert ausgesetzt gewesen sein. Prof. Dr. Wolfgang Koehnlein, Mitglied der deutschen Strahlenschutzkommission: «Fünf Millisievert ist eine erhebliche Dosis. Dabei ist noch zu berücksichtigen, dass nach neuesten wissenschaftlichen Erkenntnissen besonders die biologische Wirkung der Neutronenstrahlung bisher unterschätzt wurde und die tatsächlich wirksame Neutronendosis in Tokaimura zweifellos noch höher lag. Es ist daher zu befürchten, dass der Unfall bei den Menschen Langzeitschaeden zur Folge hat».Neben der Neutronenstrahlung fand das Greenpeace-Team auch die radioaktiven Stoffe Jod-131 und Jod-133 auf Pflanzen in unmittelbarer Umgebung der Anlage. Das zeigt, dass bei dem Unfall nicht nur Strahlung frei wurde, sondern auch radioaktive Stoffe, die sich im Boden und an Pflanzen abgelagert haben. Weitere Stoffe konnten bislang nicht nachgewiesen werden.»Die Betroffenen müssen wie Strahlenarbeiter von Atomanlagen behandelt werden», fordert Rispens. «Die Menschen brauchen eine langfristige medizinische Aufsicht und müssen betreut werden.» Rispens weiter: «Der Unfall in Japan zeigt, dass die Atomtechnik auch in hochtechnisierten Ländern unkontrollierbar ist. Die Realität hat die Ausstiegsdiskussion in Deutschland eingeholt. Das Schachern und Gefeilsche um Restlaufzeiten muss ein Ende haben und der Einstieg in eine umweltfreundliche Energieversorgung endlich beginnen».

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Greenpeace Atomkampagne

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