Die Atomkatastrophe von Fukushima jährt sich zum sechsten Mal. Von den Folgen besonders stark betroffen sind Frauen und Kinder – körperlich, psychisch, finanziell und sozial. Nun wächst der Widerstand der Frauen.

Der Fachbegriff lautet Vulnerabilität – also Verwundbarkeit, so die grobe Übersetzung. Gemeint damit ist, dass es die Schwachen immer am Schlimmsten trifft in schwierigen Situationen – zum Beispiel bei einer Evakuierung nach einem Atomunfall wie dem in Fukushima. Frauen und Kinder sind solch eine verwundbare Gruppe. Alte und behinderte Menschen auch.

Deswegen gibt es international spezielle Bestimmungen, solche Menschengruppen in Extremsituationen besonders zu schützen. Für Evakuierungszentren heisst das zum Beispiel, vermehrt darauf zu achten, dass die traumatisierten Frauen nicht auch noch leicht missbraucht werden können. Oder dass Spielzimmer für Kinder eingerichtet werden, damit sie sich vom Stress der Ausnahmesituation erholen können.

Mehr Übergriffe, mehr Gewalt

Genau das ist aber in Japan nicht passiert. Als dort im März 2011 nach dem Erdbeben eine Tsunamiwelle über das Land einbrach, als es in Folge davon im Atomkraftwerk Fukushima Daiichi zu einem Super-GAU kam und grosse Landstriche radioaktiv verseucht wurden, wurden Frauen und Kinder eben nicht besonders geschützt – das zeigt eine neue Greenpeace-Studie. So kam es zu einem Anstieg körperlicher Gewalt und häuslichen Missbrauchs während des Ausnahmezustands. Und das, obwohl Japan eine hochtechnisierte Wohlstandsnation und Unterzeichner einer Vielzahl internationaler Verträge und Menschenrechtsabkommen ist.

Der Greenpeace-Report fasst zusammen: Frauen und Kinder leiden besonders unter der nuklearen Katastrophe, und zwar in mehrfacher Hinsicht: körperlich und seelisch sowie in finanziellen und in sozialen Belangen. Die einzelnen Faktoren spielen zudem zusammen und verstärken sich gegenseitig.

Deutlich höheres Krebsrisiko

Körperlich reagieren Frauen und Kinder anfälliger auf radioaktive Strahlung als erwachsene Männer. Bei Kindern steigt erwiesenermassen das Risiko für Schilddrüsenkrebs stark an; Frauen erkranken bei radioaktiver Belastung häufiger an allen Krebsarten ausser Leukämie und an Herz-Kreislauferkrankungen als gleichermassen belastete Männer. Ausserdem gefährdet die Strahlung auch spätere Schwangerschaften: Tot- und Fehlgeburten sowie Missbildungen sind wesentlich häufiger bei Frauen, die einmal einer erhöhten Radioaktivität ausgesetzt waren; die Säuglingssterblichkeit höher. Das führt dann auch noch zu sozialer Ausgrenzung: In Kulturen wie der japanischen haben es solche Frauen schwer, einen Ehemann zu finden und eine Familie zu gründen.

Insofern ist es für Frauen und Kinder auch besonders schlimm, dass die japanische Regierung in der ersten Zeit nach der Katastrophe die Strahlenwerte nicht veröffentlichte und die radioaktive Belastung herunterspielte. Denn so wurden sie einer weit höheren Strahlung ausgesetzt, als nötig gewesen wäre. Auch die – durch Greenpeace-Messungen belegte – unverantwortliche Wiederansiedelung in den verstrahlten Regionen, welche die japanische Regierung jetzt betreibt, betrifft Frauen und Kinder besonders. Ein unbeschwertes Leben und Aufwachsen in einer Sperrzone ist unmöglich.

Armut nimmt zu

Hinzu kommt, dass Frauen in Japan finanziell ohnehin meist schlechter gestellt sind als Männer; die Katastrophe hat diese Ungleichheit noch einmal verstärkt. Ausgleichszahlungen nach der Evakuierung wurden ausserdem an den Haushaltsvorstand, also den Mann ausgezahlt. Geld kann helfen, mit einer schwierigen Situation wie dem Verlust der Heimat besser umzugehen; finanzielle Unabhängigkeit ist eine Voraussetzung dafür, eine verfahrene oder gewalttätige Beziehung verlassen zu können – eine Wahl, die viele betroffenen Frauen nicht haben.

Auch hat die Atomkatastrophe viele Familien zerrissen. Nicht nur, weil die Beziehung dem Stress der Ausnahmesituation nicht gewachsen war. Sondern auch, weil häufig vor allem die Frauen belastete Gebiete wegen ihrer körperlichen Anfälligkeit und zum Schutz der Kinder verlassen haben, Männer aber in der verstrahlten Region geblieben sind, um zum Beispiel weiterhin ihrer Arbeit nachgehen zu können. Viele dieser alleinerziehenden Frauen sind heute massiv von Armut bedroht.

Widerstand der Frauen wächst

Doch viele betroffene Frauen nehmen ihr Schicksal nicht mehr einfach nur klaglos hin. Gerade auch im Umgang mit der Katastrophe ist zu beobachten, wie sich Frauen aus traditionellen Rollenbildern lösen, wie sie aktiv werden und sich erheben. Der Widerstand gegen die japanische Regierung und deren Versuch, die Anwohner wieder in die verstrahlten Gebiete zurückzubringen, wird überwiegend von Frauen organisiert. Sie haben Online-Netzwerke gegründet, planen Demonstrationen und kämpfen für Entschädigungen sowie eine verbesserte Informationspolitik zu den Folgen der Katastrophe. Denn wenn sie auch besonders verwundbar sind, sind Frauen doch nicht wehrlos. Und so wird die nukleare Katastrophe von Fukushima vielleicht zu einem Motor für mehr Gleichberechtigung in Japan – gerade weil sie die Benachteiligung der Frauen erst einmal verschärft hat.

Zur deutschen Zusammenfassung der Greenpeace-Studie
Zur Originalstudie (engl.)