Persönliche Reflexion von Elisabeth Stern

In unserer Klage an den Gerichtshof für Menschenrechte, geht es uns Klimaseniorinnen wirklich in erster Linie um unser Recht auf Leben?

Es sei vorweg zugegeben: Wir wollen nicht vorzeitig sterben, nur weil wir als Gesamtgesellschaft – inklusive Politik und Unternehmen – keine vernünftige Klimapolitik hingekriegt haben, jedenfalls keine, die gut genug ist. 

Klagen wir also sehr egoistisch auf unser Recht auf Leben und auf unser Recht auf Gesundheit? Ausgerechnet wir alten Frauen, die statistisch gesehen in zehn Jahren sowieso von diesem Planeten verschwunden sind? 

Wir sind in einem doppelten Sinn «vulnerable». Einerseits durch die Hitzewellen, unter denen wir ältere Frauen gemäss vielen Studien am meisten leiden, und andererseits durch unsere Sichtbarkeit (exposure) in der Öffentlichkeit wegen oder dank unserer Klimaklage. Wir halten sozusagen den Kopf hin, lassen uns zB als wehleidige alte Lachnummern beschimpfen. Aktive alte Frauen triggern Beides: grosse Bewunderung und Verachtung (hate mails mit vollem Namen des Absenders!)

Ja, wir halten den Kopf hin für alle Bevölkerungsgruppen. Denn seinen eigenen Staat einklagen, ist kein Sonntags-Picknick und kann nur, wer eine besondere Betroffenheit nachweisen kann. Wir sind weit gekommen in diesem Prozess.

Sollten wir vor Gericht gewinnen, hilft eine bessere Klimapolitik weniger uns alten Jahrgängen, dafür umso mehr unseren Kindern und Kindeskindern.  Und zugegeben: es war uns immer auch wichtig, etwas zu tun, das auch für unsere Kinder, Enkelinnen und Enkel positiv wirkt . Sie sind die Zukunft, nicht wir. Wenn wir jetzt aufgrund unserer besonderen Verletzlichkeit noch an den Voraussetzungen mitwirken können, die es für eine Umwelt braucht, in der unsere Nachkommen (eigene und ‘fremde’) gedeihen können, macht mich das schlicht und einfach glücklich.

Ich identifiziere mich ja nicht nur alleine mit meiner Person, sondern darüber hinaus mit meinen Nachkommen, mit zukünftigen Generationen, sogar mit dem Planeten. Das weiss ich, seit ich das Foto der Erde aus dem All gesehen habe. «Earthrise» entstand 1968, bei mir schlug das Bild allerdings erst zehn Jahre später ein. Mit ungemeiner Wucht hat es mein Blickfeld gesprengt und erweitert.

Ich mache mir Sorgen um die Jungen. Manchmal habe ich Angst um sie in zweierlei Hinsicht. Sie sehen sich als «letzte Generation». Nicht als zukünftige! Was muss das für ein Lebensgefühl sein, sich als «Letzte» zu fühlen? Sie sind nicht verantwortlich für die Zerstörung, doch sie müssen die Krise ausbaden, durchleben, irgendwie überleben. Das Schlimme daran für mich persönlich: ich werde sie nicht beschützen können. Dabei geht mein Sorgen und Trachten als Klimaseniorin primär darum, für die zukünftige Generation unsere Erde lebenswert zu erhalten.

(Ich mache in meiner Sorge keine Unterscheidung zwischen den eigenen und anderen Kindern.)

Es macht mich wütend, dass junge Aktivist*innen selbst für gewaltfreie Klima Aktionen verurteilt werden, aber diejenigen, welche die Krise anfeuern, den Abbau von fossilen Energien weiterhin finanzieren, streichen Gewinne ein, erhalten die hohen Löhne, werden belohnt. Jede Verurteilung ist ein Schlag ins Gesicht und spottet jeglichem Gerechtigkeitssinn. Hie und da können die Jungen etwas Luft ablassen, dürfen sogar am WEF der Polit- und Wirtschaftselite die Leviten lesen. Dann wird für den Moment zugehört – im nächsten Jahr erfahren wir, dass weiterhin hohe Investitionen in die fossile Energie getätigt wurden. Wie fühle ich mich da zusammen mit den jungen Leuten durch und durch veräppelt. Ihre Zukunft wird täglich verkauft.

Sie wollen auf keinen Fall zu einem Konzern, der die Welt kaputt macht. Wen wunderts, dass junge Menschen in der Schweiz ihre eigene Zukunft laut einer neuen Studie immer düsterer sehen. Sie sorgen sich ums Klima (nebst Krieg) und fragen sich, ob die Menschen – sie persönlich! – genug Zeit haben, sich an die Klimaveränderung anzupassen. Sie wissen, die Natur wird sich irgendwann erholen, aber wo bleiben die Menschen, wo bleiben sie? Sie stellen mir Fragen wie: «Können Sie mir Tipps geben, wie ich auch meine Mutter und Grossmutter dazu bringe, aktiv zu werden?». So haben mich kürzlich junge Studierende fast schon verzweifelt gefragt.

Ich wiederhole, weil es mir wichtig ist: Es ist nicht das eigene Überleben und die eigene Gesundheit, die mich und viele von uns Klimaseniorinnen antreibt. Im juristischen Verfahren kämpfen wir nur für unsere Menschenrechte. Gleichzeitig ist es uns wichtig, dass dieser Kampf auch jüngeren und künftigen Generationen zu Gute kommt. Die grosse Sorge um die Zukunft unserer Kinder und Grosskinder ist ein wichtiger, nicht zu verleugnender Treiber für meinen Einsatz.

Ein Einsatz, der 1977 begonnen hat und erst zu einem Ende kommen wird, wenn ich unter der Erde liege. Angefangen hat mein Engagement wegen der schockierenden Zahlen zu Kindern, die täglich an Hunger sterben, dann kam die Friedensbewegung dazu, die Umweltbewegung, die Klimabewegung, die KlimaSeniorinnen.

Die KlimaSeniorinnen lassen sich nicht beirren und stehen für ihre Rechte ein. © Greenpeace/Ex-Press/Miriam Kuenzli

Zum Glück gibt es die Klimaklage als Instrument, sich wegen mangelndem Klimaschutz gegen Staaten und Unternehmen zur Wehr zu setzen.

Es ist sogar möglich geworden zu klagen, weil die Freiheitsrechte künftiger Generationen eingeschränkt werden durch die jetzige Übernutzung. Das ist ein ganz neues Konstrukt. Das Erlauben von Emissionen heute sei ein Eingriff in die Freiheitsrechte der künftigen Generationen, schrieb das deutsche Verfassungsgericht.

Sind wir ältere Frauen Opfer? Ja, im Sinne der persönlichen Betroffenheit und dem erhöhten Gesundheitsrisiko als Folge der zunehmenden Hitzetage.

Wir sind aber auch höchst kompetente agents of change. Denn unsere Klimaklage bringt den EGMR zum ersten Mal in die Situation, sich zum Klimaschutz eines Mitgliedstaates zu äussern. Und zur Frage, ob Klimaschutz ein Menschenrecht ist.

Es sind unsere Gedanken, unsere Visionen, die die Welt formen, die die Zukunft gestalten. Es hat 14 Milliarden Jahre gedauert, um uns hierher zu bringen, Sie und ich sind das Ergebnis davon. Höchstwahrscheinlich hat die Evolution keinen dritten Arm oder ein drittes Bein für uns geplant, sondern höchstwahrscheinlich einen enormen Bewusstseinszuwachs, es ist mehr in unseren Gehirnen vorgesehen, vielleicht sogar ein Quantensprung. Die Achtsamkeit, das Bewusstsein einiger heute lebender Menschen ist erstaunlich, ich sehe das nicht nur flüchtig hier und da in Menschen, sondern oft sind es grosse Veränderungen. Ja, es kann gut sein, dass der Homo sapiens von diesem Planeten verschwindet, der Planet Erde wird sich irgendwann erholen, aber wir sind weg, manche Menschen denken so, aber viele andere sehen die Chance, die wir jetzt haben, etwas Neues zu schaffen, in dem Sinne, dass einer Transformation oft oder immer eine Krise vorausgeht. Ich glaube fest daran, und ich halte diesen Glauben oder diese Hoffnung aufrecht, weil er mich inspiriert.

Elisabeth Stern ist Ethnologin im Ruhestand. Sie hat in Zürich Psychologie studiert und an der University of California einen MA und PhD in Kulturanthropologie gemacht. Sie arbeitete bei der Stiftung Kinderdorf Pestalozzi für interkulturelle Bildung. Sie lehrte Ethnologie an der Universität Zürich, arbeitete als wissenschaftliche Mitarbeiterin an der University of Zimbabwe in Harare und als Senior Lecturer für interkulturelle Managementkompetenz an der Universität St. Gallen. Sie war Co-Geschäftsführerin eines Umweltunternehmens zur Finanzierung von Umweltprojekten.