Die Klage der KlimaSeniorinnen gegen die Schweiz vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) ist ein Meilenstein in der Geschichte des zivilgesellschaftlichen Engagements. Der 29. März 2023 in Strassburg im Zeitraffer.

Wer mit dem Tram zum Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in Strassburgs Nordosten fährt, steigt bei der Haltestelle «Droits de l’Homme» aus. Die Haltestelle zuvor heisst «Parlement Européen». Mit grosser architektonischer Geste vermitteln die beiden Gebäude den Eindruck: Hier ist das Zentrum Europas, unseres Kontinents, der sich nach dem Zweiten Weltkrieg zu einer Wertegemeinschaft zusammengefunden hat. Bekanntlich tut sich die Schweiz schwer mit ihrem Verhältnis zur Europäischen Union (EU), aber sie ist Mitglied des Europarats, dessen Gerichtshof für Menschenrechte auch die Schweiz als letzte Instanz anerkennt.

An diesem 29. März 2023 steht die Schweiz für einmal im Zentrum des europäischen Interesses. Die Schweizer «KlimaSeniorinnen» klagen gegen ihr Land, es mache nicht genug gegen den immer schneller fortschreitenden Klimawandel und gefährde damit ihr Recht auf Leben und ihre Gesundheit, verletze mithin ihre Menschenrechte. Dass die reiche, wirtschaftlich und technologisch so erfolgreiche Schweiz von ihren eigenen betagten Bürgerinnen verklagt wird, das ist zwar (auch) eine gute Story für die Medien, es geht aber weit darüber hinaus: Jurist:innen erwarten ein Leiturteil, ob und inwiefern die Staaten des Europarats verpflichtet werden sollen durch die Reduktion ihrer Treibhausgasemissionen die Menschenrechtet ihrer Bürger:innen besser zu schützen. Darum ist es nicht übertrieben, dass von einem «historischen Tag» die Rede ist. Auch wenn das Urteil des Gerichts erst Monate später ergehen wird.

Es geht los

Um 7:30 Uhr haben sich schon Dutzende vor dem Eingang zum EGMR eingefunden. KlimaSeniorinnen, Sympathisant:innen, Medienleute – minütlich werden es mehr. Die KlimaSeniorinnen formieren sich, um mit Wimpeln das Wort «Climate Justice» zu bilden. Dieses Bild mit dem EGMR im Hintergrund werde um die Welt gehen und noch lange zu sehen sein, ist ein deutscher Campaigner von Avaaz überzeugt, der ein derartiges Medieninteresse noch nie erlebt hat. Das Publikum kommt von überall, schnell findet man raus, ob das Vis-à-vis Französisch, Englisch oder eben doch Schwyzertüütsch versteht, die Stimmung ist fröhlich, gespannt erwartungsvoll, aber auch ernsthaft, als seien sich alle bewusst: Der Klimawandel ist alles andere als ein vergnüglicher Ausflug nach Strassburg.

Neben den KlimaSeniorinnen fällt ein vierköpfiges Grüppchen älterer Männer auf, die ein Transparent mit der Aufschrift « SENIORS FOR CLIMATE» halten. Die Senioren aus Luxemburg sind nicht per Zufall hier: Die Schweizer KlimaSeniorinnen sind mit ihrem Anliegen seit sieben Jahren als Aktivistinnen unterwegs, auch in Europa. Dabei haben sie in Luxemburg diese Männer inspiriert, sich ihrem Kampf anzuschliessen.

Die Anhörung

Um 9:16 Uhr geht es los in der Grossen Kammer des EGMR. Es klingelt, ein Weibel dröhnt: «La Cour!», alle im Saal erheben sich und 17 Richter:nnen mit schweren Aktenbündeln unter den Armen beziehen ihre Plätze. Die irische Gerichtspräsidentin Síofra O’Leary bittet Platz zu nehmen und eröffnet die öffentliche Verhandlung mit der Erläuterung, wer im Lauf des Vormittags alles angehört werden und wieviel Zeit zur Verfügung haben soll, um seine Argumente darzulegen. 

Es ist eine gut orchestrierte Inszenierung der Dritten Gewalt, der Gerichtsbarkeit. Aber was anderes als öffentliche Aufführungen sind die Sessionen unserer Legislative in Bern, der Zweiten Gewalt? Dort wird die Vorarbeit in den Kommissionen geleistet, hier sind es die Anwält:innen der beiden Parteien, die dem Gericht ihre Argumente termingerecht zu unterbreiten haben. Die juristisch genaue Präsentation der Standpunkte ist vor allem auch ein Ritual für die interessierte Öffentlichkeit und für die Medien. Und das ist gut so in einem politischen Raum, der sich über das Recht und die Teilhabe definiert.

Die Schweiz macht als Beklagte den Auftakt, sie wird vertreten von Alain Chablais, Menschenrechtsbeauftragter beim Bundesamt für Justiz und durch Botschafter Franz Perrez, der die Schweiz bei den internationalen Klimakonferenzen (COP) als ihr oberster Diplomat vertritt. Sie beteuern, dass der Beitrag der kleinen Schweiz zur Lösung des globalen Klimaproblems ein überaus geringer sei. Und: Die Schweiz sei überzeugt, dass sich der EGMR nicht in Dinge einmischen soll, die ihn nichts angingen. Sich in die Festlegung von Fristen und Emissionszielen einzumischen, das sei nicht die Aufgabe des EGMR, sondern allein die der Schweiz und ihrer Behörden.

Argumentation des Umweltbotschafters der Schweiz, Franz Perrez © https://www.echr.coe.int/

Als Vertreter:innen der KlimaSeniorinnen treten die Rechtsanwält:innen Jessica Simor und Marc Willers auf. Es gebe keine wissenschaftlichen Zweifel, dass sich das Fenster, um den Klimawandel in überschaubaren Grenzen zu halten, noch in diesem Jahrzehnt schliesse. Niemand könne bestreiten, dass Hitze töten könne. 80 Prozent der Todesfälle, die in direktem Zusammenhang mit den immer häufiger aufgetretenen Hitzewellen stünden, seien über 75-jährige Frauen. Das Gericht müsse nicht klären, ob die Schweiz das Pariser Klimaabkommen einhalte oder nicht, vielmehr soll es darüber urteilen, ob die säumige Schweizer Klimapolitik nicht die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) und den dort festgehaltenen Schutz des Lebens und der Gesundheit verletze. 

Die renommierte Anwältin Jessica Simor ist spezialiisert auf Umwelt- und Menschenrecht. © https://www.echr.coe.int/

Acht im Europarat vertretene Staaten haben Drittparteien eine Stellungnahme beim Gerichtshof eingereicht. Sie fürchten – wie die Schweiz – eine für sie unzulässige Einmischung des Gerichts in ihre Klimapolitik, stellvertretend für sie kriegt Irland das Wort. Ganz anders beurteilt das European Network of National Human Rights Institutions (ENNHRI) die Klage aus der Schweiz, die obersten Gerichte Deutschlands und der Niederlande hätten dem EGMR bereits den Boden für ein fortschrittliches Klimaurteil bereitet. 

Dann ist die Reihe an den Richter:innen, um vertiefende Fragen zu stellen. Diese müssen nach einer halbstündigen Pause von den Rechtsvertreter:innen beider Parteien quasi aus dem Stegreif beantwortet werden.

Nach der öffentlichen Anhörung, die länger dauert als vorgesehen, stürzen sich die Medienvertreter:innen vor dem gut geschützten Gerichtsgelände auf die KlimaSeniorinnen, von denen rund fünfzig im Gerichtssaal waren. Ein Statement hier, ein Quote da. Im Lauf des Tages folgen via Zoom noch unzählige weitere kurze Interviews.
Nach einer Stunde machen sich die Frauen mit ihren Unterstützer:innen von Greenpeace auf zum in zehn Minuten erreichbaren Pavillon Josephine. Zum Mittagessen dort sind auch Freund:innen und Bekannte eingeladen, es ist ein Stelldichein der Zivilgesellschaft aus den verschiedensten Ländern, an das sich viele noch lange erinnern werden.

Greenpeace-Freiwillige aus Deutschland sind angereist, um den Frauen beizustehen. © Miriam Künzli / Ex-Press / Greenpeace

Die KlimaSeniorinnen und ihrer Anwältinnen auf der Bühne


Am Nachmittag wird auf der Bühne des Pavillon Joséphine nicht HIStory, sondern HERstory geschrieben. Die KlimaSeniorinnen und ein Teil ihres Rechtsteams nehmen auf der Bühne Platz. Es sind ausschliesslich Frauen, sie lassen ihre Anreise und den Vormittag im Gerichtssaal Revue passieren und erzählen, wie sie ihr Aktivismus seit 2016 jung hält. 

Rosmarie Wydler-Wälti befürchtet, dass es noch einen weiteren heissen Sommer brauche, damit die Früchte ihrer Arbeit voll und süss werden könnten, um diese später allen Ländern zu schenken, die vom Klimawandel betroffen seien. Applaus. Rita Schirmer-Braun ist überzeugt, «alles beginnt unten». Dank der Unterstützung von Greenpeace hätten sie als KlimaSeniorinnen aber auch von oben arbeiten können. Und wenn alle unten begännen aktiv zu werden, dann komme es auch von oben besser. Applaus. Norma Bargetzi-Horisberger: «Es braucht die Solidarität, sie ist eine Grundnahrung der Seele, wenn ich gut genährt bin, dann habe ich enorm viel Kraft.» Applaus. Pia Hollenstein erinnert daran, wie wichtig Klimagerechtigkeit auch als feministisches Anliegen sei. Wir Schweizer:innen seien zwar globalisiert, hätten aber kein Verständnis dafür, was sich etwa in der schleppenden Umsetzung der Uno-Agenda 2030 zeige. Applaus. Anne Mahrer schliesslich schlägt den Bogen zu den letzten Tagen: «Wäre das Klima eine Bank, die Schweiz hätte es gerettet. Die Zivilgesellschaft muss ihren Druck auf die Politik unbedingt aufrechterhalten.» Applaus.

Die Frauen der Stunde berichten nochmals ganz persönlich über ihre Erfahrungen mit der Klimaklage. © Miriam Künzli / Ex-Press / Greenpeace

Riesenapplaus gibt es auch für die Anwältinnen. Jessica Simor betont, wie inspirierend es gewesen sei, in diesem Team mit einem solchen Ziel zu arbeiten. Ehrgeizig, auf den Punkt, mit hohem Anspruch. Wie alle ihre Fähigkeiten im Team eingebracht und umgesetzt hätten, das sei eine einmalige Erfahrung und ihr eine Ehre gewesen. Cordelia Bähr ergänzt, dass es ihr eine grosse Ehre war und ist, mit den Seniorinnen ganz einzigartige Klientinnen seit sieben Jahren vertreten zu dürfen. Und Louise Fournier, die bei Greenpeace International als Anwältin im Climate Justice and Liability Team arbeitet (Klimagerechtigkeit und Haftungsfragen), unterstreicht: «Das Recht an sich ist konservativ, es wurde von denen geschrieben, die die Macht haben. Aber es sollte sich entwickeln. Dieser Modellfall ist darum so wichtig. Die KlimaSeniorinnen zeigen, dass ein Wandel möglich ist und haben damit Rechtsgeschichte geschrieben. Es zeigt aber auch die Macht des Aktivismus. Gepaart mit juristischer Arbeit, kann er Veränderungen bewirken.»

Den KlimaSeniorinnen beistehen

Der Fall der KlimaSeniorinnen wird der erste Fall zum Klimawandel sein, mit dem sich der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte befasst. Unterstütze sie in ihrem Kampf für Klimagerechtigkeit!

Beteilige dich

Epilog

Vor dem Heimweg zurück in die Schweiz treffe ich Nationalrätin Marionna Schlatter. Sie zeigt sich besorgt, was für ein Bild die Schweiz an diesem 29. März 2023 vor dem EGMR abgegeben habe: «Auf sich bezogen und auf den eigenen Vorteil bedacht, zwar globalisiert wie kaum ein anderes Land, aber sich der Verantwortung, die das mit sich bringt, offenbar überhaupt nicht bewusst. War das tatsächlich die Meinung unserer Regierung, was wir heute im Gerichtssaal gehört haben?» Sie habe den altbekannten isolationistischen Diskurs gehört, dass sich die Schweiz nicht in ihre direkte Demokratie reinreden lasse.

Für die KlimaSeniorinnen, aber auch für die Schweizer Zivilgesellschaft als Ganzes war es bereits ein Riesenerfolg, dass sie Ihren Anliegen auf der grossen Bühne des EGMR Gehör verschaffen konnten. Zweifellos, der 29. März 2023 war ein wichtiger Schritt für die Klimabewegung. Wie gross er wirklich war, erfahren wir bei der Urteilsverkündung in Strassburg in einigen Monaten.

Die Verhandlung am Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte wurde auf Video aufgezeichnet und kann hier angeschaut werden.