Die neusten Nachrichten aus Fukushima sind alte — seit Wochen. Man könnte meinen, in den Unglücksreaktoren von Fukushima Daiichi sei alles wieder unter Kontrolle. Doch das Einzige, was stabil ist, ist ein riesiges, schwarzes Loch des Nichtwissens.

Von Susan Boos

Ein Super-GAU ohne Ende, den einem die Website der deutschen Gesellschaft für Anlagenund Reaktorsicherheit (www.grs.de) verdeutlicht: In einer bunten Tabelle ist dort zu lesen, was man weiss – und vor allem was man nicht weiss. Bei den Reaktoren 1, 2, und 3 steht rot eingefärbt «Kern geschmolzen», «Reaktorkühlsystem: nicht funktionsfähig». Zum «Zustand der Elemente im Abklingbecken» liest man «unbekannt » respektive «Schaden vermutet». An mehreren Stellen steht «unbekannt» oder «vermutet», und alles ist rot oder gelb eingefärbt: Rot steht für dramatisch, Gelb für mittelgefährlich, Grün für nicht so heikel. Aber grün ist bei diesen drei Reaktoren nichts.


Aufwändige Tests: Eine Konsumentin in Fukushima lässt ihr Gemüse auf Strahlung prüfen.

© Greenpeace

 

Die GRS hat die Grafik Mitte März aufgeschaltet und versucht sie aktuell zu halten. Das Bild hat sich aber in all den Monaten kaum geändert. Die GRS weiss einfach nicht mehr. Und wie es aussieht, auch sonst niemand im Westen. Vielleicht weiss man in Fukushima mehr. Aber nach aussen dringt kaum etwas. Man weiss nicht, wie viele Leute gegenwärtig dort arbeiten und was sie tun. Angeblich kamen in den ersten sechs Monaten über 10 000 Leute zum Einsatz.

Wer sind sie? Was tun sie? Tepco, die Anlagenbetreiberin, publiziert zwar, wie viele Arbeiter welche Strahlendosen abbekommen haben. Allerdings wurde auch bekannt, dass Tepco Arbeiter ohne Dosimeter in die kaputten Meiler geschickt hat – die können also gar nicht wissen, wie hoch ihre Strahlenbelastung war. Auch erfährt man nichts über den Gesundheitszustand der Menschen. Was ist mit denen, die in den ersten Tagen aus Versehen in hochradioaktivem Wasser standen? Sind einige krank? Schon welche gestorben?

Die Behörden weigern sich bis heute, ausländische Teams in die Anlage zu lassen. Uno- Organisationen wie die Internationale Atomenergieagentur oder das UN-Umweltprogramm Unep hätten gerne ihre Expertenteams geschickt, konnten sich bislang aber nicht durchsetzen.

Ob japanischer Stolz oder japanische Scham der Grund dafür ist – für die Menschen in den betroffenen Gebieten ist es fatal. Denn es bedeutet, dass es bis heute keine zuverlässigen Messwerte gibt. Zwar existieren Karten über die Kontaminierung durch Cäsium. Dieser sogenannte Gammastrahler lässt sich relativ einfach lokalisieren, weil Gammastrahlung fast alles durchdringt und eine grosse Reichweite hat. Deshalb lässt sich Cäsium einfach mit einem Helikopter aus der Luft messen. Cäsium ist aber nur eines von vielen Radionukliden, die freigesetzt wurden. Es ist auch nicht das schlimmste, weil es eine biologische Halbwertszeit von etwa drei Monaten hat, das heisst, die Hälfte des Cäsiums wird nach drei Monaten über den Urin ausgeschieden.

Hotspots strahlen überdurchschnittlich

Durch die Kernschmelzen in Fukushima gelangten aber auch Strontium und Plutonium in die Umgebung. Strontium ist ein Betastrahler, wirkt also verheerender als Cäsium, und weil es sich in Knochen oder Zähnen einlagert, verweilt es fast ein Leben lang im Körper. Plutonium ist eines der gefährlichsten Nuklide überhaupt. Atmet man ein Milligramm davon ein, kann das Lungenkrebs auslösen. Strontium wie Plutonium kann man jedoch nur in Proben nachweisen, ein Geigerzähler hilft da nicht. Erde, Gras, Milch oder Fische müssten also in grossem Stil getestet werden. Das ist aufwändig, weil bei einem Unfall wie in Tschernobyl oder in Fukushima die radioaktiven Partikel ungleichmässig übers Land verteilt werden. Je nach Witterung und Gelände gibt es an manchen Orten Hotspots –
heisse Flecken, die überdurchschnittlich strahlen. Man sieht sie nicht, und rundherum kann es fast sauber sein.

Ein klares Bild, welche Gegenden wie belastet sind, fehlt in Japan – immer wieder tauchen neue Hotspots auf. Manche von ihnen finden sich selbst in der Millionen-Metropole Tokyo, 200 Kilometer von den Unglücksreaktoren entfernt. Vor über 20 Jahren, nach dem Reaktorunglück von Tschernobyl, war es noch aufwändig, gute Verstrahlungskarten herzustellen. Es dauerte fast zwei Wochen, bis man in einer Probe Plutonium nachweisen konnte. Heute sind spezialisierte Labors in der Lage, in zwei Tagen die Analysen zu machen und selbst geringste Mengen von Plutonium zu finden.

Die Regierung redet Gefahren klein

Für die betroffene Bevölkerung wäre es existenziell, diese Informationen zu haben. Denn schützen kann man sich nur, wenn man genau weiss, wo die höher kontaminierten Orte sind, die man zu meiden hat. Man müsste aber auch die Menschen kontinuierlich überwachen, um herauszufinden, ob sie keine kontaminierten Lebensmittel zu sich nehmen. In Tschernobyl kannte man dieses Phänomen auch: Bei Ganzkörpermessungen, die unter anderem das Schweizer Katastrophenhilfskorps mit dem AC Labor Spiez durchgeführt hatte, stellte man fest, dass Frauen markant weniger Radionuklide aufgenommen hatten als Männer. Sie hatten sich offensichtlich strikter an die Empfehlungen der Behörden gehalten.

Solche Ganzkörpermessungen waren in den 90er-Jahren noch aufwändig, heute lassen sie sich ohne grossen Zeitaufwand durchführen. Das AC Labor Spiez hätte gerne sein mobiles Ganzkörpermessgerät zur Verfügung gestellt, Japan wollte es jedoch nicht.

Die Regierung tut, was auch die Sowjets versucht hatten: Sie redet Gefahren klein. Ende September hob sie die Evakuierungsempfehlung für fünf Gemeinden auf. Unter anderem für Minamisoma und Naraha, zwei Städte, über die die nukleare Wolke hinweggezogen ist. Beim Eingang des Spitals von Minamisoma werden immer noch 0,51 Mikrosievert pro Stunde gemessen. Bei einer Grundschule von Naraha sind es gar 0,77 Mikrosievert. Das macht hochgerechnet 4,5 respektive 6,75 Millisievert pro Jahr. Die Regierung hat den Grenzwert jedoch kurz nach dem Unfall auf 20 Millisievert pro Jahr angehoben. Dieser Grenzwert gilt weltweit für AKW-Arbeiter. In Japan werden aber auch Kindern solche Dosen zugemutet.

In manchen verseuchten Gemeinden trägt man Erde ab, um die Strahlung zu reduzieren. Das wird kaum funktionieren. In diversen Dörfern rund um Tschernobyl hatten das die Sowjets Ende der 80er-Jahre auch probiert, waren aber meist erfolglos, weil das gesäuberte
Gelände kurze Zeit später strahlte wie zuvor. Das hängt vor allem damit zusammen, dass die Radionuklide durch Regen und Schnee in den Boden geschwemmt werden – da bekommt man sie kaum mehr raus. Die Dekontaminierung von so grossen Gebieten ist eine fast unmögliche Aufgabe. Auch weiss niemand, wohin mit den Unmengen verseuchter Erde. Man behilft sich zurzeit damit, auf den verseuchten Schulhöfen eine grosse Grube auszuheben, die man mit Plastikplanen abdichtet. Danach schüttet man die kontaminierte Erde in die Grube, deckt sie wieder mit Plastik zu und wirft Erde darauf. Später wird der Schulhof neu mit Sand bestreut. Fortan bergen also all die betroffenen Schulhöfe kleine Atommülllager. Das soll nur eine befristete Lösung sein, aber niemand weiss, wie lange sie dauert.

Immer lauter wird die Kritik an den hilflos wirkenden Dekontaminierungsmassnahmen. Oft werden verseuchte Häuser mit Hochdruckreinigern abgesprüht, womit die Radionuklide in die Kanalisation gespült werden. Die Dekontamination verkommt zur sinnlosen Verlagerung und Verteilung strahlender Partikel. Wirksame Dekontaminierungsmittel, die im grossen Stil angewendet werden könnten, gibt es keine – es bliebe nur die Evakuation, und die möchten die Behörden vermeiden: weil das unendlich viel kostet und auch Grossstädte wie Fukushima beträfe.

Susan Boos, Redaktorin WOZ, Die Wochenzeitung.
Autorin von «Beherrschtes Entsetzen —
Die Ukraine zehn Jahre nach Tschernobyl»