Die bizarre Welt der Tiefsee birgt eine grössere Artenvielfalt als der Amazonas. Doch mit riesigen Grundschleppnetzen macht die Fischerei-Industrie aus diesen Unterwasserparadiesen eine Wüste.
«Wenn aus allen Eiern ungehindert Jungfische schlüpfen und sämtliche Jungfische heranreifen würden, so brauchte es nach Berechnungen nur drei Jahre, um das Meer so anzufüllen, dass man auf dem Rücken von Kabeljauen trockenen Fusses über den Atlantik wandeln könnte.» Dies schrieb Alexandre Dumas 1873 in «Le grand dictionnaire de cuisine». Seit Jahrhunderten erscheinen uns die Meere als grenzenlos, und die darin lebenden Fische und anderen Tiere scheinen der Menschheit eine unerschöpfliche Quelle für Nahrung zu sein. Sicher ist: Das Meer ist das grösste Bioreservat der Welt, von dem wir bisher nur den kleinsten Teil erforscht und kennen gelernt haben.
Die Tiefsee birgt eine immense Artenvielfalt, die sogar diejenige der Regenwälder übertrifft. Meeresbiologen berichten fast täglich von immer erstaunlicheren Funden. Der Film «Deep Blue» hat der Öffentlichkeit zum ersten Mal Einsicht in das bizarre, artenreiche Ökosystem Tiefsee gebracht. Ausserirdisch muten Fische an, die leuchten wie Taschenlampen oder die eine natürliche Angelrute auswerfen.
Sie leben in einzigartigen Ökosystemen: Riesige prähistorische Unterwasserberge, so genannte Seamounts, ragen weit über den umgebenden Meeresboden hinaus. Sie sind höher als das Matterhorn und länger als die Alpenkette. Ihre Täler erreichen Tiefen, die der Mensch nicht erreichen kann. Allein im Pazifik gibt es mehr als 30 000 dieser Unterwasserberge, weltweit vermutet man etwa 50 000.
Doch bevor die Oasen der Ozeane überhaupt erforscht sind, hat schon deren Zerstörung begonnen. Und es hat sich gezeigt: Unerschöpflich ist das Meer durchaus nicht. Die Menschheit hat nur wenige Jahrzehnte gebraucht, um die Fischbestände in den Weltmeeren durch erbarmungslose Raubzüge an den Rand der Ausrottung zu bringen. In diesem Jahrhundert ist Fisch vom Nahrungsmittel der Küstenbewohner zum weltweit gehandelten Rohstoff geworden; möglich wurde dies durch die unkontrollierte technische Aufrüstung einer stetig wachsenden Fischereiflotte.
Gegen 90 Millionen Tonnen Fisch im Verkaufswert von gegen 100 Milliarden Franken werden derzeit jährlich gefangen und anschliessend verarbeitet – eingelegt und eingedost, filetiert, paniert oder mariniert, zu Schlemmerfilets und Fischstäbchen verarbeitet. Kein Wunder, hält die Welternährungsorganisation (FAO) 70 Prozent der kommerziellen Fischbestände für überfischt oder gar erschöpft. Was die ganze Sache noch massiv verschlimmert, ist der so genannte Beifang, also Tiere, die ins Netz gehen, aber von den Fischern nicht genutzt werden: Rund 30 Millionen Tonnen Meerestiere – darunter auch Delfine, Haie und Schildkröten – werden weltweit jedes Jahr tot über Bord ins Meer geworfen.
Immer weiter hinaus und immer tiefer hinab dringen die Fischer. Grundschleppnetze erlauben es, bis in Tiefen von 1500 Meter zu fangen. Und diese Art von Fischerei hat nichts, aber auch gar nichts mehr mit Angeln zu tun: Die Schiffe ziehen bis zu 200 Meter lange Netze hinter sich her, die durch tonnenschwere Eisengewichte am Grund gehalten werden. Zusätzlich werden Scherbretter über den Meeresboden gezogen, die den Boden richtiggehend umpflügen, um Fische, die sich dort verstecken, ins Netz zu scheuchen. Jedes dieser Scherbretter wiegt bis zu 10 Tonnen und vernichtet alles Leben – Fische, Schnecken, Muscheln und Korallen. Besonders in den Gebieten der Seamounts wird diese Technik angewandt, da deren Gipfel und Hochplateaus relativ weit nach oben unter die Wasseroberfläche reichen.
Nach einem solchen Raubzug bleibt nur noch eine öde Sandwüste mit tiefen Furchen übrig, wo die Natur kurz zuvor noch verschwenderisch ihre Schönheit offenbart hat. Die Ökosysteme der Tiefsee sind deshalb besonders verletzlich, da viele der dort lebenden Tierarten sich nur sehr langsam entwickeln und reproduzieren. Sind diese Lebensräume zerstört, gerät zudem die gesamte Nahrungspyramide aus den Fugen.
Es sind nur ganz wenige Länder, die derart zerstörerisch in die Artenvielfalt der Tiefsee eingreifen und einen immensen Schaden hinterlassen: Spanien, Russland, Portugal, Norwegen, Estland, Dänemark, Japan, Litauen, Island, Neuseeland und Lettland waren im Jahr 2001 für 95 Prozent des Fischfangs mit Grundschleppnetzen verantwortlich. Spanien kommt dabei eine traurige Spitzenposition zu: Dieses Land bringt allein rund 40 Prozent des weltweiten Tiefseefangs ein. Und es ist eines der skrupellosesten Fischereiländer, das im Übrigen auch nicht davor zurückschreckt, in der Antarktis illegalen, unkontrollierten Fischfang zu betreiben.
Keine Rede also, dass sich das Meer mit Fischen füllt. Im Gegenteil: Wenn diese Plünderung nicht gestoppt wird, wird es bald gar keine Fische mehr geben. Alexandre Dumas würde sich im Grab umdrehen.