Inmitten eines der grössten Armenviertel im Norden von Rio de Janeiro pflegen Anwohner:innen einen Gemeinschaftsgarten. Die Regierung der brasilianischen Metropole möchte den Garten zu einem positiven Beispiel für urbanen und ökologischen Wandel machen.

Rucola, Koriander, Kohlblätter, Spinat und Auberginen werden von Rose Rodrigues und Roberto Nascimento aus den Beeten gepflückt, zusammengebunden und sorgfältig in eine Schubkarre gelegt. Dann laufen die beiden durch die Favela Manguinhos in der Nordzone Rio de Janeiros, um wie jeden Mittwochmorgen die Erträge aus dem Gemeinschaftsgarten des Armenviertels an die Bewohner zu verteilen.

Sie schieben ihre Karre durch enge Gassen, die von unverputzten Häusern gesäumt sind und zwischen denen ein wilder Kabelsalat aus irregulären Stromanschlüssen gespannt ist. Sie kommen über Plätze, laufen an Fußballfeldern und Geschäften vorbei. Und rufen: «Lebensmittelspende! Gesunde Lebensmittel aus dem Gemeinschaftsgarten.» Immer wieder bleiben Passant:innen stehen oder schauen aus den Haustüren, um Salat und Gemüse in Empfang zu nehmen. Viele wirken dabei etwas schüchtern. «Die Leute hier sind bescheiden, sie schämen sich dafür, etwas gratis zu bekommen», erklärt Rose Rodrigues, die selbst aus Manguinhos stammt. «Aber es gibt auch viele, die Salat und Spinat nicht mögen, weil sie meinen, es sei etwas für arme Leute, und sie wollen sich nicht arm fühlen», wendet Roberto Nascimento ein. «Es ist nicht einfach, die Leute für gesundes Essen zu begeistern. Sie essen lieber Fritten und trinken Cola.»

Eine junge Frau mit einem Kind auf dem Arm bleibt stehen und zeigt auf den langen Koriander. Sie fragt, was das sei, so etwas habe sie noch nie gesehen. Nascimento erklärt, dass man im Gemeinschaftsgarten wilden Koriander anbaue, der anders aussehe als der Koriander im Supermarkt, aber dafür viel besser schmecke.

Rose Rodrigues und Roberto Nascimento verteilen das Gemüse in der Favela. © Ian Cheibub

Ein Garten zwischen Marihuana und Kokain

Rund 40’000 Menschen leben in Manguinhos, es ist eine der größten Favelas von Rio de Janeiro. Von Copacabana erreicht man das Viertel mit der Metro in einer halben Stunde, aber es hat rein gar nichts mit dem Rio de Janeiro der Postkarten zu tun, den Stränden, der Christus-Figur und dem Zuckerhut.

Die Straßen und Gassen in Manguinhos sind feucht und von Hundekot übersät, und in vielen Wänden klaffen Einschusslöcher. Sie stammen von den Schusswechseln zwischen der Polizei und der Drogengang «Comando Vermelho», Rotes Kommando, die in Manguinhos das Sagen hat. Bereits beim Betreten der Favela passiert man Barrikaden aus einbetonierten alten Eisenbahnschienen, die die Drogengang errichtet hat. An mehreren Stellen sieht man Jugendliche, die mit Pistolen und Gewehren um kleine Tische herum stehen. Darauf liegen Marihuana, Kokain und synthetische Drogen, die sie verkaufen.

Umso überraschter ist man dann, wenn man zum Gemeinschaftsgarten von Manguinhos gelangt, in dem Rose Rodrigues und Roberto Nascimento arbeiten. Er ist wie eine Oase inmitten einer Wüste aus Beton, Zement und Ziegeln, präsentiert sich in leuchtenden Grüntönen. Dunst steigt aus den Beeten auf, weil die Sonne bereits warm scheint.

Der Gemeinschaftsgarten inmitten des Armenviertels aus der Vogelperspektive. © Ian Cheibub

Der Gemeinschaftsgarten von Manguinhos gilt als der größte innerstädtische Gemüsegarten Südamerikas. Er existiert seit 2013 und umfasst zwei längliche Terrains, die die Größe von vier Fußballfeldern haben und genau unter einer Hochspannungsleitung liegen.

«Früher war dies der schlimmste Ort des Viertels», erinnert sich Erivaldo Lira. Der klein gewachsene Mann mit Bäuchlein und Schnauzer ist seit 16 Jahren Präsident der Einwohnervereinigung von Manguinhos und so etwas wie der Bürgermeister der Favela. «Die Leute luden ihren Müll hier ab und es kamen Drogenabhängige, um Crack zu nehmen. Es waren rund 200 bis 300 Menschen, die unter schlimmen Bedingungen lebten, es stank zum Himmel, es war gefährlich, es gab Ratten und Ungeziefer», erinnert er sich.

Die Stadtverwaltung von Rio de Janeiro entschied dann im Rahmen eines Programms mit dem Namen «Hortas Cariocas» (Gärten von Rio) genau dieses Terrain zu einem positiven Beispiel für urbanen Wandel zu machen. «Es gibt so viele ungenutzte Flächen in der Stadt, auf denen Lebensmittel angebaut werden könnten», erklärt der Agronom Júlio César Barros, der im Rathaus seit 2006 für das Programm «Hortas Cariocas» zuständig ist. Man könne durch urbane Gärten gleich mehrere Fliegen mit einer Klappe schlagen, sagt er: Verloren geglaubte Stadträume zurückgewinnen, Jobs schaffen, billige und gesunde Lebensmittel produzieren und außerdem Erziehungsarbeit leisten.

Die Hälfte der rund 50 Gemüsegärten Rios wurde in Schulen angelegt, wo sie nicht nur Lebensmittel für die Kinder und Jugendlichen produzieren, sondern auch dem Unterricht dienen. «So kommen die Schüler mit der Natur in Kontakt und lernen, was gesunde Ernährung ist», sagt Barros. Insgesamt produzieren die in dem Programm zusammengeschlossenen Gemeinschaftsgärten jeden Monat 82 Tonnen Bio-Lebensmittel. «Vor der Corona-Pandemie wurde ein Teil davon verkauft», sagt Barros. «Aber seit der Krise wird alles verteilt.»

Erivaldo Lira geht durch die engen Strassen der Favela Manguinhos. © Ian Cheibub

Kein künstlicher Dünger, keine Pestizide

Brasilien hat derzeit zwei große Ernährungsprobleme: Auf der einen Seite haben viele Menschen durch die Corona-Pandemie so starke Einkommensverluste, dass sie sich nicht mehr ausreichend ernähren können. Auf der anderen Seite essen gerade die Armen häufig extrem ungesund: zu viel Fett, Zucker, Salz. Die Folgen sind eine Zunahme von Übergewicht, Diabeteserkrankungen und Bluthochdruck.

«Die Menschen haben verlernt, richtig zu kochen», sagt Rose Rodriques, während sie Kohlblätter verteilt. «Unsere häufigsten Abnehmer:innen sind ältere Frauen, die noch wissen, wie das geht. Am beliebtesten sind übrigens Süßkartoffeln, weil sie am sattesten machen.» Aber heute hat sie die Knollen mit der violetten Schale nicht dabei. Es ist nicht Kartoffelsaison, sondern Salatsaison, weil die Temperaturen zwischen Mai und August in Rio niedriger sind als sonst und die Sonne nicht so brennt.

Als alles verteilt ist, kehren die 52-jährige Rodrigues und der 65-jährige Nascimento zurück zum Gemeinschaftsgarten. Rund 350 rechteckige Beete wurden hier angelegt, in denen heute alles wächst, was das subtropische Klima Südostbrasiliens hergibt: Zucchini, Chicorée, Kohl, Rote Beete, Kürbisse, Bohnen, Erbsen, Tomaten, Spinat, Bananen, Guaven, Papayas und Acerolakirschen. Manches Gemüse, beispielsweise Okraschoten, kann sogar alle zwei Wochen geerntet werden, anderes braucht länger zur Reife, etwa Maniok.

«Ist ein Beet geerntet, graben wir die Erde mit unseren Hacken um, um die Nährstoffe nach oben zu holen; oder wir tauschen die Erde komplett aus», erklärt Marcos Dos Santos, den alle Marquinhos rufen. Der 28-jährige Schwarze leitet einen der beiden Gartenabschnitte in Manguinhos. «Was wir pflanzen, entscheiden wir je nach Jahreszeit und auch danach, welche Samen oder Setzlinge wir von der Stadtverwaltung bekommen», erklärt er. Heute hat Dos Santos eine Fuhre mit Chili-Setzlingen parat. Er sagt, dass man sie etwas versteckt einsetzen werde, weil in der Vergangenheit schon Chili-Sträucher geklaut worden seien. «Sie machen sich gut auf dem Fensterbrett und die Schoten sind aromatisch», sagt er. «Deswegen sind sie wahrscheinlich beliebt.»

Marcos Dos Santos lebt selbst in der Favela und arbeitet im Gemeinschaftsgarten. © Ian Cheibub

Insgesamt 22 Menschen arbeiten im Gemeinschaftsgarten von Manguinhos, 14 Frauen und acht Männer, die meisten sind schon etwas älter. «Es wurden Leute eingestellt, die viel Zeit zu Hause verbrachten, arbeitslos oder pensioniert waren und wieder nach einer Aufgabe suchten», sagt Eviraldo Lira von der Einwohnervereinigung, der beim Auswahlprozess half. Nach ihrer Anstellung wurden alle im Öko-Anbau geschult, denn es werden in Manguinhos weder künstliche Dünger noch Pestizide verwendet – allein schon daher, weil deren Anschaffung zu teuer wäre. «Wir setzen voll auf natürliche Mittel», sagt Marcos dos Santos. So kompostiere man organische Abfälle zu Dünger und bekämpfe Schädlinge mit einer Mischung aus Seife und Kokos. Es gehe dabei auch um die De-Elitisierung von Bio-Lebensmitteln, die in Brasilien immer noch so teuer sind, dass arme Menschen sie sich nicht leisten können, erklärt Júlio César Barros vom Projekt «Hortas Cariocas».

Biodiversität kommt zurück

Alle der 220 Gärtner:innen, die insgesamt in Rio in dem Projekt arbeiten, erhalten 500 Reais im Monat von der Stadt, die das Programm unterhält. Es sind derzeit umgerechnet weniger als 100 Franken, die aber in Brasilien gerade für Arme ein kleines Vermögen sind. Außerdem dürfen sich alle Mitarbeiter:innen mit so viel Gemüse und Früchten eindecken, wie sie wollen, es herrscht kein Mangel. Was übrig bleibt – es sind in Manguinhos im Durchschnitt zwei Tonnen Lebensmittel pro Monat –, wird in der Favela verteilt.

Rose Rodrigues, die Gärtnerin, beschreibt, wie sich ihr Körper durch die Ernährungsumstellung verändert hat: «Früher habe ich viel minderwertiges Essen gegessen, vor allem Fast Food», sagt sie. «Ich hatte hohen Blutdruck und die Konfektionsgröße 48. Heute trage ich 40, und mein Blutdruck ist gesunken.» Der Gemeinschaftsgarten hat dafür gesorgt, dass Rodrigues das Privileg einer gesunden und ausgewogenen Ernährung zuteilwird, das in Brasilien sonst vor allem die Reichen genießen.

«Mein gesamtes Leben hat sich durch den Garten komplett verändert», erzählt auch die 72-jährige Dione da Silva und legt ihre Hacke für einen Moment zur Seite. Ihre Familie war einst aus dem trockenen und armen Nordosten nach Rio gekommen, sie arbeitete 20 Jahre lang als Putzfrau in einem Forschungslabor. «Mir tut die Arbeit mit der Erde und den Pflanzen gut. Es ist wie eine Therapie», sagt sie. «Ich kehre damit auch zu meinen Wurzeln zurück, meine Familie stammt von einem Bauernhof. Ohne den Garten würde ich zu Hause sitzen und hätte nicht viel zu tun.» Es sind Sätze, die man von allen hört, die hier arbeiten.

Arbeiterinnen setzen während eines Vormittags im Garten neues Gemüse, das Wochen später geerntet werden soll. Alles, was gepflanzt wird, ist biologisch. © Ian Cheibub

Und auch, dass sie stolz darauf sind, im Gemeinschaftsgarten beschäftigt zu sein. «Er hat die Favela positiv verändert», sagt Dione da Silva. «Anstatt einer stickenden Müllhalde haben wir heute einen grünen und friedlichen Ort.» Durch den Garten ist auch die Fauna wiedergekehrt. Man hört Vogelgezwitscher aus den Bäumen und Sträuchern, die das Terrain abgrenzen und sieht Bienen zwischen den Beeten umherschwirren. «Medien aus aller Welt interessieren sich auf einmal für uns», sagt da Silva.

Der Gemeinschaftsgarten hat das Leben von Dione da Silva verändert. Das Leben von Leonardo Ferreira hat er wahrscheinlich gerettet. «Ich arbeitete für die Firma», sagt der 22-jährige Gärtner. Er meint das Rote Kommando, die Drogengang, der er sich mit 13 Jahren anschloss. «Ich war mit den falschen Leuten unterwegs», sagt er. «Aber ich habe den Absprung geschafft.» Statt einer Knarre schwingt Ferreira heute den Gartenschlauch, mit dem die Beete jeden Tag gewässert werden. Er sagt: «Ich hätte damals nie gedacht, dass ich mal als Gärtner tauge. Es macht mich glücklich, etwas zu pflanzen, es wachsen zu sehen und schließlich zu ernten.»

Preis für nachhaltige Entwicklung

Für Júlio César Barros von der Stadtverwaltung zählt dieser konkrete soziale Wandel zu den größten Errungenschaften von «Hortas Cariocas». Wissenschaftler:innen aus aller Welt kommen nun nach Rio, um sich über die Gemeinschaftsgärten zu informieren. Das Programm ist so erfolgreich, dass es 2019 im Rahmen der Konferenz des Mailänder Vertrags für Urbane Ernährungspolitik unter 104 Bewerbern mit dem ersten Preis ausgezeichnet wurde. «Der Bürgermeister von Tel Aviv, das auf dem zweiten Platz landete, besuchte uns anschließend, um zu schauen, was wir besser machen», sagt Barros und lacht. 2020 wurde «Hortas Cariocas» dann in die UN-Liste mit essenziellen Projekten aufgenommen, die dabei helfen, die Ziele für eine nachhaltige Entwicklung bis 2030 zu erreichen.

Der Gemeinschaftsgarten in der Favela wurde sogar mit einem Preis ausgezeichnet. © Ian Cheibub

Tatsächlich könnten die Gemeinschaftsgärten von Rio ein Vorbild für zahlreiche Städte in Entwicklungsländern sein. «Ungenutzte oder schlecht genutzte Flächen bekämen einen Zweck, man schafft Arbeit, Nahrung, verkürzt die Wege zwischen Produzenten und Konsumentinnen und verändert das Sozialgefüge prekärer Viertel», sagt Júlio Barros. Wie viel Potenzial in der Idee steckt, bewies 2020 eine Studie der Technischen Universität Wien in Zusammenarbeit mit dem brasilianischen Institut Pereira Passos (IPP). Sie kam zu dem Ergebnis, dass sich in Rio allein durch die Bepflanzung von Flachdächern fast 40 Prozent der Bevölkerung mit Lebensmitteln versorgen ließen. Die Hürden auf dem Weg dorthin sind fehlender politischer Wille, fehlendes Geld und fehlende Bildung der Bevölkerung.

Erivaldo Lira, der «Bürgermeister», sagt später, dass der Gemeinschaftsgarten Manguinhos von einem Ort der Dritten Welt zu einem Ort der Zweiten Welt gemacht habe. «Wir waren eine der schlimmsten Favelas von Rio, aber heute kommen Reporter:innen, um über den positiven Wandel zu berichten.» Die Gärtnerinnen und Gärtner, die sich im Schatten eines Bananenbaums ausruhen, nicken bevor sie wieder zu ihren Hacken greifen, um Unkraut zu jäten, Setzlinge zu pflanzen und Salat zu ernten.


Philipp Lichterbeck, Jahrgang 1972, lebt seit 2012 in Rio de Janeiro. Der freie Korrespondent und Reporter berichtet für deutsche, schweizerische und österreichische Medien über Brasilien und den Rest Lateinamerikas. 2013 erscheint sein Buch «Das verlorene Paradies. Eine Reise durch Haiti und die Dominikanische Republik».

Ian Cheibub (geb. 1999) ist ein visueller Geschichtenerzähler, der in Rio de Janeiro lebt und an der Universidade Federal Fluminense studiert. Er arbeitet zudem als Fotograf für Reuters und berichtet für andere Medien über Geschichten in Brasilien. In seiner Arbeit versucht er zu verstehen, welche Mechanismen die Menschen aus dem Globalen Süden entwickeln, um zu überleben.