Die Frage, ob wir Tiere töten dürfen oder nicht, ist nicht einfach schwarz-weiss – also Industrielle Massentierhaltung versus «vegane» Landwirtschaft. Es gibt ein Dazwischen: eine tierfreundliche und ökologische Tierhaltung. 

Nicht weit von meinem Zuhause in der Nähe von Basel grast eine Herde Engadinerschafe. Jeden Frühling tollen auf der Weide ein Dutzend übermütiger Lämmer herum und die Mütter passen auf sie auf, blöken laut, lassen die Kleinen saugen – ein herzerwärmender Anblick. Doch jeden Sommer muss die Züchterin Anet Spengler Neff zwei oder drei Böcklein schlachten. Ich fragte sie einmal, wie sie es über sich bringe, sie gewinne diese ja sicher auch lieb? Natürlich, sagte sie, doch ihr bleibe keine Wahl. Jeden Frühling kämen junge Schafe nach. Sie müsse dafür sorgen, dass die Herde als Gemeinschaft in Balance ist. Sie müsse zur Herde als ganzes Sorge tragen, damit jedes Tier ein intensives und artgerechtes Leben führen könne – und dazu gehöre auch der Tod. Denn wenn wir Tiere in unsere Obhut nähmen, müssten wir auch für den Tod die Verantwortung übernehmen. Die Tötungsfrage sei von der Haltungsfrage nicht zu trennen.

Bevor Anet Spegler Neff ein Tier schlachten lässt, redet sie deswegen mit ihm und nimmt sich Zeit. Ihre langjährige Erfahrung ist, dass ein Schaf sie dann ruhig zum Metzger begleitet. Sie tötet auch selber Schafe mit einem Bolzenschuss und anschliessender Entblutung, wie das inzwischen in einigen Kantonen erlaubt ist. Das Tier bleibt so in seiner gewohnten Umgebung. Stressige Transporte, angstbeladene Situationen im Schlachthaus fallen weg. Ich selber habe noch kein grösseres Tier getötet, doch ich befragte Bauern und Tierärztinnen, die Tiere in den Tod geführt hatten. Ausnahmslos alle erzählten von ähnlichen Erfahrungen wie Anet Spengler Neff.

Töten ist nie schön

Natürlich: Töten bleibt tragisch. Viele Tiere stehen vor dem Schlachten Todesängste aus, sind gestresst, wehren sich verzweifelt. Dem müssen wir mehr Gewicht geben, mehr Raum, mehr Würde auch. Nicht einfach wegschauen aus Feigheit, weil das nicht so schön ist, und das Drama hinter den Mauern von Schlachthöfen verstecken. Die Frage, ob Tiere getötet werden dürfen oder nicht, hat zudem weitreichende Konsequenzen:

Für unsere Lebensmittelsicherheit:

Wir Menschen können kein Gras essen, wir können es nicht verdauen. Doch rund zwei Drittel der schweizerischen (und auch weltweiten) Landwirtschaftsfläche sind permanentes Grasland, weil das Gelände zu steil oder zu steinig ist. Zwei Drittel! Niemand ausser Kühen, Schafen oder Ziegen kann Gras in wertvolle Proteine, also in Milch, Käse oder Fleisch, umwandeln. Wir sind auf die Wiederkäuer angewiesen, um Gras effizient zu verwerten.

Für unsere Böden: 

Die weltweit fruchtbarsten Böden – die Kornkammern in der Ukraine oder der Magdeburger Börde – sind allesamt ehemalige Steppenböden, die über Jahrtausende von grossen Tierherden beweidet wurden. Erst die Tiere bildeten die Grundlage für den Aufbau humusreicher Böden. Das Gras benötigt das «Gefressen-Werden» durch Weidetiere wie auch ihren Kot und ihren Tritt. Der Kot von Wiederkäuern ist faserig, speichert Wasser und bietet mit seiner grossen Oberfläche Milliarden von Kleinstlebewesen einen Lebensraum – so kann sich fruchtbarer Humus bilden. Je dichter und dauerhafter der Boden bewachsen ist, desto mehr Humus entsteht. So wird CO2 dauerhaft in die Wurzeln unter die Grasnarben gebunden. Boden ist nach den Ozeanen der grösste Kohlenstoffspeicher der Welt. Kunstdünger hingegen versickert sofort im Boden und trägt zur Bodenerosion bei. In den letzten Jahrzehnten ging weltweit ein Drittel der fruchtbaren Böden durch Erosion und Auswaschung verloren. Doch der Boden ist DAS Kapital der Menschheit – Boden kann man nur einmal verlieren.

Für unsere Alpweiden:

Wenn diese nicht mehr von Weidetieren bestossen werden, verganden sie rasch. Büsche, allen voran Grünerlen, breiten sich aus. Die Artenvielfalt nimmt dramatisch ab; an steilen Hängen steigt auch die Lawinengefahr. Vor einiger Zeit war ich im Hospental im Urnerland ein Projekt der Uni Basel anschauen. Das Problem war dort, dass Alpweiden nicht mehr bestossen und von Grünerlen überwuchert wurden. Nun befreien dort 300 Engadinerschafe die von Erlen überwucherten Alpweiden – sie fressen fürs Leben gern Erlenrinde. Und die Artenvielfalt nimmt wieder zu. Der Kreislauf schliesst sich.

Natürlich: Wir essen zu viel Fleisch und Milch. Es hat zu viele Nutztiere in der Schweiz. Der Import von Kraftfutter sollte verboten werden. Doch die Alternative zu einer «veganen» Landwirtschaft ist nicht die heutige Massentierhaltung. Sondern eine Landwirtschaft, die Tiere mit einbezieht, die ihnen ein erfahrungsreiches, intensives Leben ermöglicht – und dazu gehört der Tod. Wir müssen neue Wege finden, tiergerecht zu töten. Die Alternative ist eine Landwirtschaft, in der Weidetiere hauptsächlich mit Gras und Heu ernährt werden. So ergibt sich ein perfekter Kreislauf: Die Tiere fressen Gras und Heu – wir selber können das nicht. Sie machen daraus Milch und Fleisch und düngen mit ihrem Dung die Weide, die sie ernährt.

Mich stört, dass wir uns bei der Diskussion um die Frage, ob man Fleisch essen darf oder nicht,  aus diesen vielfältigsten Beziehungsgeflechten herausnehmen und das Ganze auf eine einzige Frage einengen. Wir müssen endlich aufhören, alles isoliert zu betrachten. Das gilt auch für das Töten von Tieren.

Florianne Koechlin ist Biologin; sie wurde bekannt als Gentechnik-Kritikerin und ist Autorin verschiedener Bücher (u.a. «Jenseits der Blattränder» (2014) und «Schwatzhafte Tomate, wehrhafter Tabak» (2016), «Was Erbsen hören und wofür Kühe um die Wette laufen (2018)). Zudem absolvierte sie die Malausbildung an der Visual Art School in Münchenstein. www.blauen-institut.ch

Ein Zukunftszenario von Florianne Koechlin zum Thema «Ernährung» findest du im aktuellen Magazin.