Eine Momentaufnahme der Corona-Pandemie in der Schweiz. Festgehalten von Joël Hunn. Niedergeschrieben von Nina Kunz.

Ich trete aus dem Haus und bin schon am Ziel. Die Nachbarskinder haben mit Kreide eine dicke Linie auf den Asphalt gemalt und dazugeschrieben: «Ziel». Seit sie nicht mehr zur Schule müssen, laufen sie hier jeden Tag um die Wette.

Das Gefühl, auf die Strasse zu treten, ist anders. Es ist stiller. Ich höre das Quietschen meiner Schuhe, das Rasseln der Schlüssel, das Schreien eines Babys fünf Häuser weiter. So muss sich Zürich 1963 angefühlt haben.

Kein Auto rattert.

Corona-Pandemie in Zürich. Von der Urania Brücke aus gesehen.

Ich spaziere die Stauffacherstrasse entlang Richtung Helvetiaplatz und presse intuitiv die Lippen aufeinander. Ich habe gelesen, dass die Aerosole noch lange in der Luft herumschwirren, wenn jemand gehustet hat. Das eigene Quartier ist zur feindlichen Zone geworden.

Seit März bin ich neurotisch. Ich fasse keine Türklinken mehr an, gehe heiss duschen, wenn ich im Coop war, und beobachte mich permanent selbst: Was hat dieses Kratzen im Hals zu bedeuten? Fühle ich mich schlapp?  

Am Helvetiaplatz kommt mir eine sehr alte Frau entgegen, die ein hellblaues Hawaii-Hemd trägt und nur noch einen Arm hat. Ich frage mich: Was macht sie draussen?! Ich teile alle Menschen sofort in «Risikogruppe» oder «Nicht-Risikogruppe» ein. Es ist schrecklich. 

Luzern während der Corona-Krise. Mit Schutzmaske und Latexhandschuhen zum Einkaufen ist eine Realität für viel ältere Menschen.

Ich blicke an den alten Fassaden zu den Balkonen hoch und frage mich, warum nicht auf jedem einzelnen Menschen liegen, die sich bräunen. Viele Balkone sind verwaist, so wie die Strassen auch.

Das Unheimliche am Spazieren, so denke ich, ist die Diskrepanz zwischen Aprilsonne und flauer Stimmung. Der Flieder blüht, aber niemand schaut zu.

Ich beobachte eine junge Familie, die am Brunnenrand sitzt und auf Poulet Pepitos herumkaut. Ein Mann schläft auf einer Parkbank. Manchmal kommt mir die ganze Stadt vor wie ein Wartezimmer. Alle warten, aber niemand weiss so recht, worauf.

Was wohl der Löwe vom Virus hält?

An der Ecke Stauffacherstrasse / Ankerstrasse kommt ein Mops um die Ecke gesaust. Er erschrickt, als er mich sieht. Und ich erschrecke, als ich seine Besitzerin sehe: Sie trägt einen «Skelett»-Mundschutz: Dort, wo Mund und Nase wären, sieht man das Bild eines Schädels, wie bei einem Röntgenbild.

In den letzten Wochen habe ich viele Texte dazu gelesen, dass die Krise eine Chance sei. Auch für den Klimaschutz. Der Philosoph Peter Sloterdijk hat etwa gesagt, dass das Argument, ein anderes System sei unmöglich, als falsch enttarnt wurde. Man sehe ja: Keine Fliegerei, massvoller Konsum… es geht.

Ich habe gelesen: das «Fenster» zu einer neuen Welt stehe «weit offen». Das würde ich so gerne glauben. Aber retten die Staaten ihre Airlines jetzt NICHT mit Milliardenpaketen? Mann, mann, mann. Das macht mich fertig.

Dafür sind die Kanäle in Venedig wieder blitzsauber.

«Wo sind unsere Brotgeber geblieben?» wird sich die Ente fragen.

Manchmal vergesse ich, dass Ausnahmezustand herrscht. Aber dann sehe ich, wie sich die Menschen auf der Strasse abstossen wie Magnete. Kommt eine Person näher, weicht die andere aus. Also doch: Ausnahmezustand.

Fast wäre ich auf einem weggeworfenen Plastikhandschuh ausgerutscht.

Ich komme an einem Lampenmast vorbei, an dem ein Flugblatt klebt: «Hören Sie auf, ein Feigling zu sein! Sie wissen, dass die Medien und die Regierung Sie wegen des Virusschwindelns anlügen.»

An der Engelstrasse lachen zwei Mädchen in Hot Pants so laut, als würden sie sagen wollen: Wir sind – trotz allem – chill! Eine Frau in Duschhaube, Spital-Handschuhen und Ganzkörper-Regenpelerine wirft ihnen einen bösen Blick zu.

Soziale Nähe trotz Social Distancing.

Es ist Montagmorgen und der Zürcher Kreis 4 riecht nicht nach Pisse, sondern nach Blütenstaub. So riecht die Abschaffung des Wochenendes.

Mit gesenktem Kopf biege ich wieder in meine Strasse ein. Gesprächsfetzen drängen durch die offenen Fenster, Spatzen schreien.

Vor der Eingangstür verkrampfe ich mich. Ich bete, dass niemand im Treppenhaus ist.

Das Schloss knackt.

Bilder: Joël Hunn studierte Dokumentarfotografie in der Niederlande und arbeitete danach ein Jahr bei der NZZ. Sein letztes Projekt «Standards & Classes» ist eine visuelle Abhandlung des Zuchtprozesses von Gurken und wurde im British Journal of Photography publiziert. Ein Buch zum Projekt folgt.

Text: Nina Kunz hat in Zürich Sozial- und Wirtschaftsgeschichte studiert. Heute ist sie Kolumnistin bei «Das Magazin» und arbeitet als freie Autorin – unter anderem für das ZEITmagazin in Berlin.