Klimaschutz ist ein Menschenrecht, und: Die Schweiz hat das Recht auf Klimaschutz verletzt. Das hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte entschieden. Das Urteil ist ein Meilenstein im Umwelt- und Menschenrecht.

Juristische Sprache ist für Laien nicht immer sehr verständlich. Als die Sprecherin des Europäischen Menschenrechtsgerichtshofs (EGMR) an diesem Dienstag, 9. April das Urteil verkündet und die Erwägungen des Gerichts zusammengefasst hatte, reagierten die zahlreichen KlimaSeniorinnen, die zu dieser Urteilsverkündigung nach Strassburg waren, kaum: Es dauerte einen Moment, bis die meisten verstanden hatten, was da eben verkündet worden war. Um so grösser war dann der Jubel am anschliessenden Apero im nahen Hotel.

Denn was war da eben verkündet worden? «Wir haben Geschichte geschrieben», sagt Anne Mahrer. Mahrer ist Ko-Präsidentin des Vereins KlimaSeniorinnen, der die Schweiz verklagt hat. Und der heute in Strassburg Recht bekommen hat. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat die Schweiz wegen ungenügenden Klimaschutzes verurteilt. Damit hat der EGMR erstmals einen Klimafall beurteilt und ist zum Schluss gekommen: Klimaschutz ist Menschenrecht. Das Urteil fiel sehr klar: in mehreren Punkten entschied das Gericht einstimmig, in anderen mit 16 gegen 1 Stimme.

In der Schweiz abgeblitzt

Die KlimaSeniorinnen haben im November 2016 beim Departement für Umwelt, Verkehr und Energie (UVEK) – damals unter der Führung von Bundesrätin Doris Leuthard – Beschwerde eingereicht: Der Bund schütze sie als alte Frauen zu wenig vor den Folgen des Klimawandels. Das UVEK wies die Beschwerde ab, ebenso wie danach das Bundesverwaltungs- und schliesslich das Bundesgericht, mit jeweils leicht unterschiedlichen Argumenten. Im Wesentlichen stellten die Gerichte aber fest, dass die KlimaSeniorinnen nicht klageberechtigt seien; das Bundesgericht befand – an allen Realitäten vorbei –,
die Klägerinnen seien heute noch nicht in ausreichendem Masse vom der Klimakrise betroffen, um klageberechtigt zu sein.

Es blieb der Gang nach Strassburg. Im März 2023 hörte der EGMR die Parteien an; nun hat er sein Urteil verkündet: Die Schweiz hat den Artikel 8 (Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens) und 6 (Recht auf ein faires Verfahren) der Europäischen Menschenrechtskonvention verletzt. Insbesondere hat das Gericht gerügt, dass die Schweiz ihre Klimapolitik nicht auf ein CO2-Budget abstütze. Ein solches Budget würde festlegen, wie viel CO2 die Schweiz unter Berücksichtigung ihrer internationalen Verpflichtungen und der wissenschaftlichen Erkenntnisse insgesamt noch emittieren darf.

Gleichzeitig verkündete der EGMR zwei weitere Urteile: ein französischer ehemaliger Bürgermeister hatte wegen mangelnden Klimaschutzes gegen Frankreich, portugiesische Jugendliche gegen Portugal und 32 weitere Staaten geklagt. Diese beiden Klagen hat der EGMR aus formellen Gründen abgewiesen. Unter den von den portugiesischen Jugendlichen beklagten Ländern war auch die Schweiz – insofern wurde sie an diesem Tag immerhin auch freigesprochen.

«Dafür Recht studiert»

Cordelia Bähr, eine der Anwältinnen im Rechtsteam der KlimaSeniorinnen, sagt, das Urteil sei das Beste, was man habe erwarten können; ein Sieg auf ganzer Linie. Ihre Kollegin Jessica Simor findet namentlich bemerkenswert, dass der EGMR von der Schweiz ein Budget einfordere. Das habe das Zeug, die Klimapolitik in Europa zu verändern. Simor hatte vor einem Jahr das Gericht mit einem glänzenden Plädoyer offenbar beeindruckt. An der daran anschliessenden Veranstaltung sagte sie: Dieser Fall sei der Grund, warum sie Recht studiert habe.

Die Schweiz muss nun nachbessern und die vom Gericht gerügte Menschenrechtsverletzung beheben. Das Urteil ist aber auch für alle anderen 45 Mitgliedstaaten des Europarats verbindlich. Insofern ist es ein Glücksfall, dass das Bundesgericht die Klage abgewiesen hat. Hätte es den KlimaSeniorinnen Recht
gegeben, gälte dieses Urteil nur für die Schweiz.

Katalysator für die Klimabewegung

Wie geht es für die KlimaSeniorinnen weiter? Als erstes müssen die Siegerinnen das fast 300-seitige Urteil analysieren. Auf jeden Fall solle der Verein weiterbestehen, sagt Vorstandsmitglied Oda Müller. Georg Klingler, der als Klima-Campaigner von Greenpeace die KlimaSeniorinnen mit aufgebaut und koordiniert hat, hofft, das Urteil könne als «Katalysator für die Klimabewegung» dienen: «Bis jetzt ist Klimapolitik im Rechts-Links-Schema gefangen. Aber Menschenrechte sind nicht links oder rechts, sie sind die Grundlage unserer Demokratie. Das müssten eigentlich alle anerkennen.»

Den KlimaSeniorinnen beistehen

Der Fall der KlimaSeniorinnen wird der erste Fall zum Klimawandel sein, mit dem sich der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte befasst. Unterstütze sie in ihrem Kampf für Klimagerechtigkeit!

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