Die Gletscher schmelzen – und zwar rasant. Dies nicht nur in der Schweiz, sondern auf der ganzen Welt. Der Glaziologe Daniel Farinotti erklärt uns im Interview, welche Auswirkungen der Gletscherschwund auf unsere Zukunft hat – und ob wir 2050 überhaupt noch von Gletschern reden werden.

Herr Farinotti, wie steht es aktuell um die Schweizer Gletscher?

Nicht gut. Auch 2019 haben die Gletscher stark an Masse eingebüsst – etwa 2 Prozent davon gingen verloren. Glücklicherweise war der letzte Winter ziemlich reich an Schnee, sonst hätten die Hitzewellen im Sommer die Verluste noch grösser ausfallen lassen.

Sie haben ausgerechnet, dass die Gletscher der Welt weniger Eisvolumen haben, als bisher angenommen – was bedeutet das für uns Menschen?

Gletscher haben die Funktion eines Wasserspeichers: Sie speichern den im Winter fallenden Niederschlag in Form von Schnee, Firn und Eis, und lassen diesen im Sommer, mit der Schmelze, wieder frei. Diese Speicherung kann dabei über Jahrzehnte und Jahrhunderte geschehen. Fällt dieser Speicher weg, ergeben sich Änderungen im Zeitpunkt, in dem das Wasser anfällt, und in der Menge. Das bedeutet, dass Gebiete, die betreffend Wasserressourcen stark von der Gletscherschmelze abhängen, aufgrund des geringeren Eisvolumens nun früher als erwartet Änderungen im Wasserkreislauf erfahren könnten.

An welche Umstellungen müsste die Schweizer Bevölkerung sich gewöhnen, wenn es 2050 fast keine Gletscher mehr gäbe?

Es ist heute schon absehbar, dass 2050 etwa die Hälfte aller Gletschereismassen der Alpen geschmolzen sein wird. Damit ist das Wasserreservoir, welches oben bereits angesprochen wurde, bedeutend kleiner. In Gebieten, in denen das Gletscherschmelzwasser eine grosse Rolle spielt – z. B. in den Walliser Tälern – wird es also zu Änderungen kommen. Besonders im Sommer könnte das Wasser merklich knapper sein als heute. Die Schweiz als solche wird aber weit über den Gletscherschwund hinaus die Auswirkungen des Klimawandels spüren: Hitzewellen, Starkniederschläge, verändertes Landschaftsbild und Vegetation – all dies hat im Klimawandel einen gemeinsamen Ursprung.

Wie könnte 2050 dann der Skiurlaub in der Schweiz aussehen?

Mit geschätzt 20 Neuschneetagen weniger fragt sich in erster Linie, welche Skigebiete 2050 überhaupt noch offen haben werden. Dann werden die Wintersportler auch höher hinauf müssen und kürzere Abfahrten haben. In tiefen Lagen könnte es bei der jetzigen Entwicklung dafür fast doppelt so viele Sommertage pro Jahr haben, wie wir es heute gewohnt sind – ich glaube, man greift dann lieber zum Rad als zu den Skiern.

Ist es denn möglich, dass die Schweizer Gletscher komplett verschwinden?

Oh ja, dies ist möglich. Unsere Berechnungen suggerieren, dass ohne dezidierte Massnahmen zugunsten des Klimaschutzes bis Ende Jahrhundert schon mehr als 90 Prozent der Gletscher verschwunden sein werden.

Welche Massnahmen müssten jetzt sofort getroffen werden, damit das Schmelzen eingedämmt werden kann?

Diese Antwort ist leicht: Die Emissionen von Treibhausgase müssen verringert werden, und zwar massiv! Unsere Berechnungen zeigen aber, dass, selbst wenn sich das Klima auf magische Weise von heute auf morgen auf den Zustand der letzten 30 Jahre stabilisieren würde, wir 2050 rund einen Drittel weniger Gletschereis als heute hätten.

Gibt es Möglichkeiten, die Gletscher zu retten, die heute noch nicht realisierbar sind, aber mit fortschreitender Technik in Betracht gezogen werden könnten?

Meinen Sie so etwas wie das künstliche Kühlen der Gebirge? Das halte ich für Unfug. Es wird eher über Technologien geredet, die aktiv Treibhausgase aus der Atmosphäre entfernen würden. Dies klingt zwar plausibel, ist aber in der Umsetzung sehr schwierig. Auch Geoengineering-Ansätze sind immer wieder Thema, beispielsweise die Reflektivität der Atmosphäre zu erhöhen, um die Sonneneinstrahlung, die den Boden erreicht, zu verringern. Die Auswirkungen solcher Ansätze sind aber so wenig erforscht, dass es buchstäblich fahrlässig wäre, sie ernsthaft in Betracht zu ziehen. Ein Experiment mit unserem ganzen Planeten anzustellen, halte ich – selbst als Forscher, der das Experimentieren liebt – für einige Nummern zu gross. Wenn das schiefgeht, haben wir keinen zweiten Versuch.

Im Tirol werden Tücher über die Gletscher gelegt, damit möglichst viel Sonnenlicht zurückreflektiert wird und die Eismassen nicht schmelzen. (© Mitja Kobal / Greenpeace)

Sollte beispielsweise die Gletscher-Initiative angenommen werden – könnten die Schweizer Gletscher dann zumindest teilweise wieder zu ihrer Ursprungsgrösse zurück wachsen?

Wachsen? Nein, auf keinen Fall. Damit die Gletscher wieder wachsen, reicht es nicht, dass man die Treibhausgasemissionen bis 2050 netto auf null  bringt. Die Initiative würde aber dazu beitragen, dass die Gletscher nicht gänzlich verschwinden.

Es ist aber noch nicht zu spät, um unsere Gletscher zu retten?

Es kommt auf die Definition von „retten“ und den Zeithorizont an: Gletscher reagieren mit einer gewissen Trägheit auf Änderungen im Klima. Für das heutige Klima sind unsere Gletscher zu gross. Das heisst, dass die Gletscher in den nächsten Jahrzehnten weiter schrumpfen werden – egal, was wir tun. Längerfristig hat unser Handeln aber eine grosse Bedeutung: Wir entscheiden heute darüber, ob wir 2100 noch von Gletschern reden werden, oder sie dann nur noch der Erinnerung angehören.

Was wünschen Sie sich für die Zukunft der Gletscher?

Ich wünschte, 2050 würden wir den Klimawandel als ein weitgehend gelöstes Problem ansehen und in der Tat wieder über das Wachsen der Gletscher reden. Ob ich denke, dass dies Realität sein wird? Wir Menschen haben jetzt die Wahl!

Daniel Farinotti ist Leiter der Glaziologiegruppen der Versuchsanstalt für Wasserbau, Hydrologie und Glaziologie (VAW) an der ETH Zürich sowie der Eidgenössischen Forschungsanstalt für Wald, Schnee und Landschaft (WSL). Zu seinen wichtigsten wissenschaftlichen Beiträgen gehört die Entwicklung einer Methode zur Schätzung der Eisdickenverteilung einzelner Gletscher und eine Schätzung des Eisvolumens aller Gletscher auf der Erde.

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