In seinem Langzeitprojekt «Drowning World» fängt der Fotograf Gideon Mendel eine menschliche Erfahrung ein, die geografische und kulturelle Gräben zum Verschwinden bringt. Mit dem Jurypreis des Greenpeace Photo Award 2016 konnte er die neusten Kapitel in den USA und in Frankreich hinzufügen.

Das Wasser steht ihm bis zum Hals – im wahrsten Wortsinn. Sein Kopf scheint auf dem Wasser
zu stehen, das Kinn abgestützt auf die Oberfläche. Der Rest des Körpers verschwindet im ockerbraunen Nass. Im Hintergrund ist der oberste Teil einer offenen Tür zu sehen: der Eingang zu seinem ehemaligen Zuhause in einem Dorf in Brasilien. Was dahinter ist, liegt im Dunkeln. Und sicher unter Wasser.

Es ist eines der eindrücklichen Portraits aus Gideon Mendels Langzeitprojekt «Drowning World». Seit 2007 reist der Fotograf dorthin, wo das Wasser plötzlich hoch steht. Vernimmt er von einer Überschwemmung, überlegt er reflexartig, sich auf den Weg zu machen. Nach Haiti etwa, nach Indien, Bangladesch, Thailand oder Nigeria – und ebenso in westliche Länder wie England oder Deutschland. Nicht immer ist sein Vorhaben einfach umzusetzen. Es gilt, Bewilligungen einzuholen, Wege in die überschwemmten Gebiete zu finden, Übersetzer zu organisieren, technische Probleme zu überdenken. Einmal vor Ort, sucht der Fotograf Kontakt zu Menschen, deren Leben auf dem Kopf und unter Wasser stehen. Häufig begleitet er sie erstmals wieder zurück in ihr ehemaliges Zuhause.

Wir blicken in die Augen von Menschen, denen nichts geblieben ist als ihr Körper. Vielleicht ist ihr ehemaliges Daheim weggespült oder bis zur Unkenntlichkeit zerstört, das Geschäft ruiniert, vielleicht ist alles Private der unerbittlich zerstörenden Kraft des Wassers zum Opfer gefallen. Man scheint durch diese Augen hindurch in Seelen zu blicken, erkennt Wut, Trauer, Kampfgeist. Mendel schafft es, in diesen Momenten grösster Hoffnungslosigkeit tiefe menschliche Würde festzuhalten. «Das narrative Desaster interessiert mich nicht», erklärt er. Vielmehr versucht er, die Verletzlichkeit der Menschen zu zeigen. «Diese möchte ich mit uns allen teilen.»

Verwirrende Ästhetik

Mendel kniet sich mit Leib und Seele in Sozialreportagen. Er bleibt an Themen hängen, ist rundum involviert. Als «Mission» beschreibt er selbst seine Projekte, die häufig zu Langzeitprojekten werden. «Ich bin schlecht darin, Projekte zu beenden.» Das Schicksal von Menschen interessiert ihn, sei es unter dem Apartheidregime seines Heimatlandes Südafrika, im Zuge von Aids oder als Folge des Klimawandels. Er macht sich Gedanken, wie die Welt aussehen wird, wenn seine Kinder so alt sind wie er heute, und er interessiert sich für den kulturhistorischen Hintergrund der Themen seines Werks. «Die Flut hat für alle Menschen etwas Symbolisches», sagt er und verweist auf die Gewalt des Wassers etwa in der Bibel.

Mendels Portraits hätten etwas Klassisches, stünden sie nicht in einem alarmierenden Kontext. «Das hat etwas Unerwartetes», konstatiert er. Darüber hinaus strahlen manche Aufnahmen verwirrende Schönheit aus. Menschen und Gegenstände erscheinen im Spiegelbild, werden in perfekter Symmetrie reflektiert, Farben schillern im Nass, Formen ziehen ästhetische Linien. «Wenn das Wasser hoch steht, ist alles ruhig. Die Zeit steht still», sagt Mendel. Doch es ist eine trügerische Ruhe. Erst wenn der Spiegel zu sinken beginnt, wird das Ausmass der Katastrophe sichtbar, verbreitet sich der Gestank, setzt sich der Schlamm. Zurück bleiben Spuren der Verwüstung.

Im Lauf der letzten elf Jahre entwickelte Gideon Mendel denn auch unterschiedliche Erzählstränge. Als Herz des Projekts bezeichnet er die Serie «Submerged Portraits». Parallel dazu wächst unter dem Begriff «Watermarks» ein Archiv an Aufnahmen von Gegenständen, die vom Wasser bleibend gezeichnet sind. Nach einer Hochwasserkatastrophe in Australien fand der Fotograf private Fotos auf der Strasse. Er nahm sie mit ins Hotelzimmer. «Was ich darauf sah, traf mich. Die beschädigten Bilder waren eine Metapher dafür, dass der Klimawandel Einfluss auf unsere Erinnerung haben kann.» Mit der Serie «Floodline» schliesslich hat Mendel eine weitere Gattung «visueller Investigation» geschaffen. Es sind Linien ehemaliger Hochwasserstände, die Räume durchtrennen, Wände markieren. «Das hat etwas sehr Präzises in einem chaotischen Raum», sagt er – und erneut etwas verblüffend Ästhetisches. Manches Bild erinnert an Mark Rothko.

Ein Archiv berührender Begegnungen

Ob auf den Fotos Personen zu sehen sind oder nicht – in allem, was Mendel festhält, steht der Mensch im Mittelpunkt. So wächst nicht nur ein Archiv beeindruckender Aufnahmen, sondern auch eine Reihe berührender Begegnungen.

Nach der Jahrhundertüberschwemmung 2011 in Nigeria beispielsweise, die mehr als 500 Menschenleben forderte, reiste Mendel in ein kleines Dorf im Süden des Landes. Die einfachen Lehmhütten waren weggeschwemmt und jene Zementhäuser der Mittelklasse, die noch standen, waren unter Wasser. Er traf auf eine Frau, eine Bäckerin, die alles verloren hatte: ihr Zuhause, ihre Bäckerei, in der 20 Personen beschäftigt gewesen waren, ihren Ofen. Nichts war versichert gewesen. «Ich machte ein Bild von ihr», erzählt Mendel und wollte ihr darüber hinaus Hilfe anbieten. «Doch das Einzige, was sie wollte, war, dass ich der Welt zeige, was geschehen ist. Und das ist genau, was ich zu tun versuche.»

Gideon Mendel wurde 1959 in Johannesburg geboren und studierte Psychologie und afrikanische Geschichte in Kapstadt. Er arbeitet regelmässig für das «Weekend»-Magazin des «Guardian» und seine Fotos sind in vielen internationalen Magazinen erschienen, darunter «National Geographic», «Geo», «Stern» und «Rolling Stone».

Ursula Eichenberger schrieb für verschiedene Medien wie die «Neue Zürcher Zeitung» und war bis 2006 Redaktorin beim «Tages-Anzeiger» mit Schwerpunkt Sozial- und Gesellschaftsthemen. Seither ist sie für Stiftungen und Non-Profit-Organisationen tätig und schreibt Bücher.

Das Public Voting des Greenpeace Photo Award 2018 läuft noch bis zum 31.Oktober 2018. Schau vorbei, wähle unter den sieben Nominierten deinen Favoriten aus und gib deine Stimme ab. Das Projekt mit den meisten Stimmen gewinnt den Publikumspreis von 10’000 Euro. Zusätzlich wird ein Jurypreis von ebenfalls 10’000 Euro vergeben.