Die Schweiz hat ihre Stellungnahme zur Beschwerde der KlimaSeniorinnen und vier Einzelklägerinnen beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) eingereicht. Das Bundesamt für Justiz verteidigt darin die ungenügenden Klimaschutzmassnahmen der Schweiz. Gleichzeitig möchte es, dass der Gerichtshof gar nicht erst inhaltlich über die Klimaklage befindet. Angesichts der immer eindringlicher werdenden Warnungen der Wissenschaft vor der Klimakrise und der offensichtlichen Bedrohung der Menschenrechte ist diese Antwort der Schweiz unverständlich. 

Die KlimaSeniorinnen und vier Einzelklägerinnen kämpfen seit Jahren unermüdlich für mehr Klimaschutz in der Schweiz, weil die fortschreitende Klimakrise sie in ihren Grundrechten auf Leben und Gesundheit bedroht. Im vergangenen Jahr zogen die Seniorinnen darum vor den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in Strassburg (siehe Kasten). Diesen März verlieh der Gerichtshof der Beschwerde Priorität und forderte die Schweiz zu einer Stellungnahme auf. 

Die nun vorliegende Antwort des Bundesamts für Justiz, das die Schweiz vertritt, zeigt: Die Schweiz wehrt sich mit Händen und Füssen gegen eine Behandlung der Klimaklage am Gerichtshof. «Die Schweiz will ihre Verantwortung in der Klimakrise nicht wahrnehmen und ignoriert, dass der von ihr mitverursachte Klimawandel schon jetzt unsere Gesundheit bedroht. Klimaschutz heisst darum Schutz unserer Grundrechte», sagt Rosmarie Wydler-Wälti, Co-Präsidentin der KlimaSeniorinnen Schweiz. 

Bereits in den einleitenden Bemerkungen spricht das Bundesamt für Justiz dem Gerichtshof die Berechtigung ab, sich inhaltlich in die Angelegenheit einzumischen. Das löst bei den KlimaSeniorinnen und Greenpeace Schweiz – die Umweltorganisation unterstützt die Klimaklage seit Beginn – nur Kopfschütteln aus. «Die Klimakrise ist zu einer der grössten Bedrohungen der Menschenrechte geworden. Wer, wenn nicht der auf Menschenrechte spezialisierte Gerichtshof, soll die Rechtsfrage untersuchen, ob die Grundrechte der Seniorinnen in der Schweiz genügend geschützt werden?», fragt Georg Klingler, Klimaexperte bei Greenpeace Schweiz. 

Die Schweiz ignoriert alle Warnsignale 

In der Stellungnahme behauptet das Bundesamt für Justiz, der Beitrag der Schweiz an die globale Klimaerwärmung sei gering. «Diese Mär von der fehlenden Relevanz unseres Landes beruht auf einem Buchhaltungstrick», sagt Klingler. «Unser Konsum verursacht im Ausland enorme Emissionen, und die Investitionen unseres Finanzplatzes befeuern die Klimakrise. Wird das berücksichtigt, gehört die Schweiz zu den Ländern, die einen grossen Einfluss auf den Klimawandel haben.»

Ungeachtet dieser Tatsache verteidigt das Bundesamt die Klimapolitik der Schweiz vehement, bezeichnet sie als ausreichend und beharrt darauf, die Klimapolitik stütze sich auf bestverfügbares wissenschaftliches Wissen. Dies widerspricht der Einschätzung weltweit führender Klimawissenschaftler:innen, die Schweiz unternehme nicht genügend, um die Krise in den Griff zu bekommen [1] – wie praktisch alle Industrieländer. Das Bundesamt ignoriert zudem die bereits zahlreichen Überschwemmungen, Hitzewellen und Waldbrände in diesem Jahr, die die Folgen der Versäumnisse der letzten Jahrzehnte schmerzlich aufzeigen. 

Umso unverständlicher ist darum, dass das Bundesamt für Justiz gar das Argument bemüht, es bestehe ja noch Zeit, weil eine Klimaerwärmung von 1,5 Grad erst um 2040 herum erreicht werde. Falsch. Der neueste Sachstandsbericht des Weltklimarats IPCC hat jüngst aufzeigt, dass die globale Erhitzung schneller voranschreitet als erwartet und bei der derzeitigen Entwicklung bereits in den frühen 2030er-Jahren die 1,5-Grad-Grenze geknackt wird. «Die Argumentation des Bundesamtes, wir hätten noch Zeit, ist absurd. Das heisst im Umkehrschluss, dass wir uns erst gerichtlich gegen die Versäumnisse unseres Landes wehren dürfen, wenn es für die nötigen präventiven Klimaschutzmassnahmen längst zu spät ist», sagt Wydler-Wälti. 

Ferner führt das Bundesamt für Justiz aus, dass Klimaschutzmassnahmen teuer seien. «Wir leben in einem Land mit dem zweitgrössten Bruttoinlandprodukt pro Kopf. Wenn die Schweiz sich keine wirkungsvollen Klimaschutzmassnahmen leisten will, wer soll es dann?», fragt Rosmarie Wydler-Wälti.

Das Rechtsteam der KlimaSeniorinnen wird nun diese und weitere Argumente der Schweiz im Detail analysieren und bis zum 13. Oktober dem Gerichtshof eine Replik zustellen. Danach wird der EGMR entscheiden, wie es mit der Schweizer Klimaklage weitergeht. 


Weitere Informationen 


Die Klimaklage der KlimaSeniorinnen

2016 gelangten die KlimaSeniorinnen und vier Einzelklägerinnen an den Bund und ersuchten um einen verstärkten Klimaschutz zum Schutz ihrer Grundrechte auf Leben und Gesundheit. Sie stiessen nicht auf Gehör, und auch das Bundesverwaltungsgericht sowie das Bundesgericht wiesen in der Folge ihre Beschwerden ab. Deshalb reichten die KlimaSeniorinnen im November 2020 ihre Klimaklage resp. Beschwerde beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte EGMR in Strassburg ein. Die Seniorinnen rügen in ihrer Beschwerde die Verletzung ihres Rechts auf Leben und Gesundheit, des Rechts auf ein faires Verfahren vor einem Gericht und des Rechts auf eine wirksame Beschwerde vor einer innerstaatlichen Instanz. ​​Der EGMR gab im März 2021 grünes Licht für die Beschwerde gegen die Schweiz und verlieh dem Fall Priorität. Weitere Informationen: https://klimaseniorinnen.ch/ 


Bildmaterial

Bildmaterial zum Gang der KlimaSeniorinnen vor den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte EGMR nach Strassburg finden Sie in der Mediendatenbank.


Kontakte

Deutsch

  • Rosmarie Wydler-Wälti, Co-Präsidentin des Vereins KlimaSeniorinnen, 079 567 67 73, [email protected] 
  • Cordelia Bähr, Rechtsanwältin der KlimaSeniorinnen, 078 801 70 34, [email protected] 
  • Martin Looser, Rechtsanwalt der KlimaSeniorinnen, 079 481 76 88, [email protected] 
  • Georg Klingler, Leiter Klima Greenpeace Schweiz, 079 785 07 38, [email protected] 

Französisch

Italienisch


Quelle 

[1] Climate Action Tracker: https://climateactiontracker.org/countries/switzerland/