Gemeinsame Medienmitteilung von KlimaSeniorinnen Schweiz und Greenpeace Schweiz

Die Schweiz muss ihre Klimapolitik vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) erklären. Dafür hat sie kurz vor der öffentlichen Verhandlung der Beschwerde der KlimaSeniorinnen und vier Einzelklägerinnen eine im Verfahren nicht vorgesehene zusätzliche schriftliche Eingabe gemacht. Darin versucht die Schweiz ihre Klimastrategie in Bezug auf das global noch verbleibende CO2-Budget und ihre Verantwortung zu rechtfertigen. Das Rechtsteam der KlimaSeniorinnen zeigt nun auf, dass die Schweiz damit ihre ungenügende Klimapolitik eher bestätigt – als ausräumt.   

Ende März wurde die Beschwerde der KlimaSeniorinnen und vier Einzelklägerinnen gegen die Schweiz als erste Klimaklage vor der Grossen Kammer des EGMR öffentlich verhandelt. Wenige Minuten vor der Verhandlung übergab die Präsidentin des EGMR dem Rechtsteam der KlimaSeniorinnen eine schriftliche Eingabe der Schweiz, in welcher diese ihre Klimastrategie und namentlich die aktuellen und geplanten Klimaziele in Bezug auf ihren fairen Anteil an den globalen Klimaschutzbemühungen schriftlich – statt wie vorgesehen mündlich – erklärte. Die KlimaSeniorinnen erhielten vom EGMR die Gelegenheit, schriftlich zu den Äusserungen der Schweiz Stellung zu nehmen, was sie mit heutiger Replik gemacht haben. 

Worum geht es? In ihrer Eingabe behandelt die Schweiz vom EGMR im Vorfeld der Verhandlung gestellte Fragen. Die Fragen bezogen sich einerseits auf das CO2-Budget der Schweiz. Der Gerichtshof wollte wissen, ob die Schweiz für sich ein bestimmtes CO2-Budget berechnet hat, und wenn ja, auf welcher Basis. Andererseits stellen die Richter:innen die Frage: Wie soll berechnet werden, welchen gerechten Beitrag jeder Staat zur Einhaltung des globalen CO2-Budgets leisten muss («fair share»)?

Die Schweiz vermochte keine konkreten Zahlen zum CO2-Budget zu nennen. Sie verwies auf einen Policy Brief von Prof. Dr. Bretschger der ETH Zürich aus dem Jahre 2012, in welchem aber ebenfalls kein CO2-Budget der Schweiz auszumachen ist. Die KlimaSeniorinnen haben deshalb kurzerhand international anerkannte Wissenschaftler beauftragt, dies nachzuholen und anhand der im Policy Brief angewandten Methodik das heute verbleibende CO2- und Treibhausgasbudget für die Schweiz zu berechnen. Das Ergebnis ist: Das verbleibende Treibhausgasbudget der Schweiz betrug per 1. Januar 2022 noch 381 Mt CO2-eq (Megatonne CO2-Äquivalent). Dieses Budget ist bei einer Fortführung der geplanten Klimastrategie Ende vor 2030 aufgebraucht. Das heisst nichts anderes, als dass die aktuelle Klimastrategie der Schweiz zu einer massiven Übernutzung des noch verbleibenden globalen Budgets führt. 

Bezüglich der Frage des Gerichts nach einem fairen Anteil («fair share») an den globalen nötigen Emissionsreduktionen weist die Schweiz darauf hin, dass es keine allgemein anerkannte Methode zur Berechnung eines fairen Anteils gebe und die von den KlimaSeniorinnen eingereichten Studien allesamt «subjektiv» seien. Die Klimastrategie der Schweiz hingegen beruhe auf anderen Analysen, inklusive des Policy Briefs und einem 60-seitigen internen Arbeitspapier zur Frage, welcher Beitrag der Schweiz an den globalen Klimaschutzbemühungen «fair und ambitiös» sei. Gleichzeitig stellt die Schweiz klar, dass dieses Arbeitspapier nicht die Auffassung der offiziellen Schweiz widerspiegele. Die Krux ist denn auch: Just dieses Papier steht in starkem Kontrast zur aktuellen und geplanten Klimapolitik. So sollen nach dem internen Arbeitspapier beispielsweise Emissionsreduktionen im Ausland nicht an die eigene Klimabilanz angerechnet werden dürfen und die Schweiz auch für die Reduktion ihrer grauen Emissionen (z.B. durch den Konsum und die Aktivitäten des Finanzplatzes) verantwortlich zeichnen. 

Brisanter Nebenschauplatz: Die dem EGMR zur Untermauerung der Klimaziele nunmehr eingereichten Dokumente wurden 2021 trotz expliziter Anfrage des Rechtsteams der KlimaSeniorinnen zu den Grundlagen der Schweizer Klimaziele auf Basis des Öffentlichkeitsgesetzes nicht öffentlich zugänglich gemacht.

Rosmarie Wydler-Wälti, Co-Präsidentin der KlimaSeniorinnen Schweiz, kommentiert: «Dass mein Land in einer so essenziellen Frage – dem notwendigen Klimaschutz – derart handelt, erstaunt mich erneut völlig. Doch es ist tatsächlich so. Ich bin dankbar, dass sich der EGMR mit unseren Vorbringen eingehend auseinandersetzt.» 


Verhandlung in der Grossen Kammer am EGMR wird transkribiert

Die KlimaSeniorinnen werden zwecks besserer Auseinandersetzung mit den Inhalten des Verfahrens demnächst ein vollständiges Transkript der öffentlichen Verhandlung vor der Grossen Kammer des EGMR vom 29. März 2023 veröffentlichen. Inklusive der Beiträge der Schweiz, der KlimaSeniorinnen und der vier Einzelklägerinnen, der Drittparteien (Irland und dem European Network of National Human Rights Institutions), der zahlreichen Fragen der Richter:innen und der Antworten beider Parteien. Das Video der öffentlichen Verhandlung ist auf der Webseite des Gerichts zu finden. 


Klimaklagen: Dritte öffentliche Verhandlung am 27. September 2023

Derzeit sind drei Klimaklagen vor der Grossen Kammer des EGMR hängig. Die Schweizer Beschwerde «Verein KlimaSeniorinnen Schweiz and Others v. Switzerland» (Nr. 53600/20) sowie die Rechtssache «Carême vs. Frankreich» (Nr. 7189/21) wurden Ende März öffentlich verhandelt. Die öffentliche Verhandlung der dritten Klimaklage «Duarte Agostinho u. a./Portugal u. a.» (Nr. 39371/20) findet am 27. September 2023 statt. Erwartet wird, dass der Gerichtshof in diesen drei Fällen Leiturteile bezüglich Menschenrechte und Klimawandel fällen wird. 


Weitere Informationen

Kontakte

Deutsch

  • Rosmarie Wydler-Wälti, Co-Präsidentin des Vereins KlimaSeniorinnen,
    +41 79 567 67 73, [email protected]    
  • Cordelia Bähr, Leitende Rechtsanwältin der KlimaSeniorinnen, +41 78 801 70 34, [email protected] 
  • Georg Klingler, Projektkoordinator und Klimaexperte Greenpeace Schweiz,
    +41 79 785 07 38, [email protected]    

Französisch

  • Anne Mahrer, Co-Présidente des Aînées pour la protection du climat,
    +41 79 249 72 17, [email protected]    
  • Raphaël Mahaim, Avocat au Barreau, +41 79 769 70 33, [email protected]   

Italienisch

  • Norma Bargetzi, Anziane per la protezione del clima,
    +41 79 352 98 89, [email protected]