Die internationale Atomenergiebehörde verharmlost die atomaren Risiken durch die russische Invasion um die Ruine des Kernkraftwerks von Tschernobyl in der Ukraine. Das zeigen Strahlenmessungen von Greenpeace vor Ort. Einmal mehr wird klar: Atomenergie hat keine Zukunft.

Der russische Angriffskrieg in der Ukraine lenkt den Blick auch auf die nukleare Katastrophe von Tschernobyl 1986. Damals explodierte Block 4 des Atomkraftwerks und verstrahlte 150’000 Quadratkilometer Land. Noch immer ist die Sperrzone um die Atomruine unbewohnbar. Dessen ungeachtet hat die russische Armee im Frühjahr rund um die havarierte Anlage Schützengräben ausgehoben und Unterstände gebaut.

Ein fünfköpfiges Expertenteam unter der Leitung von Greenpeace Deutschland war in Tschernobyl unterwegs, um die Auswirkungen durch die militärischen Aktivitäten abzuschätzen – und zu untersuchen, welchen Gefahren Mensch und Umwelt ausgesetzt waren und sind.

Auf ihrer viertägigen Messtour analysierte das Greenpeace-Team 19 Proben aus dem Areal, in dem russische Soldaten Schützengräben ausgehoben und so radioaktiv verstrahlte Erde freigelegt haben.

Das Expertenteam mass Strahlenwerte, die über drei Mal höher sind als von der Internationalen Atomenergiebehörde (IAEO) angegeben. Die Messungen dokumentieren Radioaktivitätswerte, die den internationalen Grenzwert für Atommüll um bis das Vierfache überschreiten.

IAEO-Direktor Rafael Mariani Grossi hatte Ende April verkündet, es seien zwar erhöhte Werte zu verzeichnen, diese seien aber keine grosse Gefahr für Mensch und Umwelt.

Dazu kommt: Nach ukrainischen Angaben zerstörten die russischen Besatzer eine Datenbank mit Informationen zu radioaktiv belasteten Flächen in der Region und plünderten ein Labor. Die wissenschaftliche Arbeit zum Umgang mit der Verstrahlung wurde um Jahrzehnte zurückgeworfen. 

«Wir wollten wissen, was vor Ort geschehen ist»

Den meisten Schweizer Medien waren die Greenpeace-Messungen keine Nachricht wert. Dabei waren es die ersten unabhängigen Strahlenmessungen seit Beginn des Krieges von Russland gegen die Ukraine. Die ukrainische Regierung hatte die Recherche-Reise genehmigt. «Wir wollten wissen, war vor Ort geschehen ist», sagt Thomas Breuer, Atomexperte von Greenpeace Deutschland.

Heute steht die Atomruine Tschernobyl wieder unter Kontrolle der Ukraine. Anders das weltgrösste Atomkraftwerk in Zaporizhzhia, das darüber hinaus in einer umkämpften Region liegt. Seit März hält die russische Armee Zaporizhzhia besetzt. Betrieben wird das Werk weiterhin vom ukrainischen Staatskonzern Energoatom. «Atomanlagen können genauso wie Atomwaffenstützpunkte Angriffsziele sein oder sogenannte Kollateralschäden werden», sagt Breuer. Genau das ist in den vergangenen Tagen geschehen. Russland und die Ukraine werfen sich gegenseitig vor, das Atomkraftwerk beschossen zu haben.

Die Folgen eines möglichen Atomunfalls wären laut Atomexperte Florian Kasser von Greenpeace Schweiz verheerend: «In erster Linie wäre die Bevölkerung in der Umgebung rund um das AKW betroffen. Die Radioaktivität könnte jedoch bis nach Mitteleuropa kommen. Eine Rolle spielt hierbei der Wind.»

FDP fordert Investitionen in Schweizer AKW

Klar ist, Tschornobyl und Zaporizhzhia mahnen, dass die Schweiz am Atomausstieg festhalten muss – je schneller desto sicherer. Daran änderen auch die Forderungen von FDP-Präsident Thierry Burkart in einem Blick-Interview nichts. Burkart plädiert für den Weiterbetrieb der «bestehenden Kraftwerke» sowie «regulatorische Rahmenbedingungen», damit «die notwendigen Investitionen in die Sicherheit dieser Anlagen für die Betreiber wirtschaftlich sind». Sprich: Der und die Steuerzahler:in sollen einmal mehr in eine veraltete und risikoreiche Energieform investieren.

AKW Beznau läuft mit Ausnahmegenehmigung

Atomkraftwerke sind zudem klimakrisen-untauglich. Jüngster Beweis ist das AKW Beznau (AG). Seit rund zwei Wochen läuft es nur mit gedrosselter Leistung und mit einer Ausnahmebewilligung des Bundesamtes für Energie.

Damit es nicht zu einem Massenfischsterben kommt, darf die Aare nach Einleiten des Kühlwassers nicht wärmer als 25 Grad sein. Bei höheren Temperaturen sind Fische wie Forellen und Äschen akut gefährdet.

Ist die Marke von 25 Grad überschritten, muss die Leistung der Reaktoren reduziert werden. Sind die Temperatur länger als drei Tage über dieser Marke, müssen die Reaktoren ganz heruntergefahren werden. Das war bereits vor Tagen der Fall. Doch aus Gründen der Versorgungssicherheit lässt das Bundesamt den Betrieb reduziert weiterlaufen. Das geht aus einer Feststellungsverfügung vom 23. Juli 2022 des Bundesamtes zuhanden der Axpo hervor. Darin steht, dass die Axpo das Kernkraftwerk Beznau gemäss Zwischenverfügung vom 4. Juli 2019 weiter betreiben kann.

Die Schweiz braucht einen Solar-Sprint

Der Ausstieg aus den fossilen Brennstoffen ist ohne Kernenergie möglich. Die Lösungen liegen vor. Das zeigt das Energieszenario von Greenpeace Schweiz. Die CO2-Emissionen des Energiesektors lassen sich in den nächsten zehn Jahren komplett eliminieren. Das entspricht rund 75 Prozent aller Treibhausgasemissionen. Der Aus- und Umstieg ist machbar, ohne die Biodiversität und natürliche Landschaften weiter zu zerstören. Grundlage sind die bestehenden Wasserkraftwerke, eine verstärkte Energieeffizienz und ein sprintmässiger Ausbau der Solarenergie.


Dokumentation

Greenpeace Deutschland hat in der Ukraine Strahlenmessungen vorgenommen, um die Auswirkungen des russischen Angriffs zu dokumentieren. Ergebnisse und Hintergründe findest du in der englischsprachigen Dokumentation und in der internationalen Medienmitteilung.